Vor dem Verschwinden
Im Frühjahr 1931 besuchte Akiba Rubinstein (1880–1961) Tel Aviv und Jerusalem im damaligen Palästina. Der Großmeister spielte einige Simultanmatches, die Heimreise war schwierig. Von ruf & ehn
Wenig war bislang über die Palästinareise Akiba Rubinsteins 1931 bekannt. Dem bienenfleißigen israelischen Schachhistoriker Avital Pilpel ist es nun gelungen, den Aufenthalt Rubinsteins, für viele neben Kortschnoi der stärkste Nichtweltmeister des 20. Jahrhunderts, zu rekonstruieren. Er spielte im April und Mai mehrere Simultanmatches in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv.
Gegen Moshe Mendel Marmorosh trat er am 9. Mai 1931 bei einer Partie mit lebenden Figuren im neuen Arbeitersportverein in Tel Aviv-Jaffa an. Rubinstein wurde als „Schachweltmeister“tituliert (welch schrecklicher Fehler!), das Ereignis wurde seltsamerweise nicht als „Chess“-, sondern als „Chase-match“angekündigt. Das noch junge Tel Aviv hatte andere Sorgen als Schach und war, was das königliche Spiel betrifft, noch ein Entwicklungsland.
Überhaupt müssen viele Umstände dem weltberühmten Großmeister aus Polen exotisch erschienen sein: In einem der Simultane Ende April in Tel Aviv verlor Rubinstein eine Partie, wie die Tel Aviver Zeitung Doar Ha’Yom berichtete, da der Meister seine Dame mit dem Springer verwechselte. Bei beiden Figuren fehlte der Oberteil. Auch bei der Rückreise per Schiff von Haifa nach Triest brauchte Rubinstein Glück im Pech, wie ein anonymer Leserbrief an Doar Ha’Yom im Herbst berichtete. Der Autor des Briefes gab sich als Mitreisender Rubinsteins zu erkennen. Rubinstein klagte, dass er nur einen Bruchteil seines Honorars erhalten hatte, sodass ihm die Weiterreise von Triest zu seiner Familie in Antwerpen unmöglich sei. Erst durch eine Kollekte an Bord wurde verhindert, dass Rubinstein in Triest mittellos strandete.
Der Geldmangel war aber nur eines der Probleme Rubinsteins. Seit das Weltmeisterschaftsmatch gegen Emanuel Lasker nicht zustande gekommen war, war es nervlich mit Rubinstein bergab gegangen. Er sprach immer weniger, viele Turniere wurden schweigend absolviert. Eine Fliege verfolge ihn, so gestand er einem Vertrauten, verfolge ihn quer durch Europa und setze sich, wann immer er sich konzentrieren wolle, auf seine Stirn.
Ein Jahr nach seiner Palästinareise verschwand Rubinstein aus der Schachszene. Viele glaubten ihn tot. Doch Rubinstein starb erst 1961, nach jahrzehntelangen Aufenthalten in belgischen Sanatorien. Welche Partien wohl in dieser Zeit im Kopf des wohl tiefgründigsten Strategiekünstlers des Jahrhunderts abgelaufen sind? Vielleicht erinnerte er sich an seinen Triumph gegen Duras beim Wiener Turnier?
Rubinstein – Duras Wien 1908
Rubinstein lenkt die Partie in ein ungewöhnliches Damenbauernspiel. Jerusalem um 1930: quicklebendig, aber Entwicklungsland in Sachen Schach.
Fördert die weiße Entwicklung, solider war 7... e6 oder 7... Le6 8.cxd5 Lxd5. 8... g6 9.Ld2 Lg7 war zu empfehlen. Dieser nur scheinbar aktive Zug wird von Rubinstein genial widerlegt. Der Auftakt zu einer tief angelegten Opferkombination.
Ein Damenopfer gegen den in der Mitte stehenden König
Noch am besten. Am einfachsten, Weiß geht in ein
Endspiel mit einem Mehrbauern, das er auch mit 14.Txd1 0–0–0 15.Sxd7 Txd7 16.Lxd7+ Dxd7 17.Txd7 Kxd7 erreichen konnte. Was sonst? Schwarz muss die Dame sofort zurückgeben, da 14… Kd8 15.Txd1 noch schlimmer wäre.
Etwas zäher war 16... f6 17.g4 Lg6 18.Sxg6 hxg6 19.0-0, denn jetzt kann Weiß das Läuferpaar ohne Zugeständnisse halbieren. Diese Stellung hatte Rubin- stein offensichtlich vor neun Zügen im Auge, als er seine Kombination begann. Der Mehrbauer am Damenflügel verspricht den Gewinn, doch sind noch zahlreiche technische Hindernisse zu überwinden.
Der Turm soll den a-Bauern erobern. Schwächer wäre 22.Kxc1?! e5 23.Lb2 Th3. Nach 22... Txh2 23.Tc8+ Kf7 24.Ke2! e5 25.Lc5 Lxc5 26.Txc5 nebst Ta5xa6 geht der weiße Plan auf.
Ein wichtiger Sicherungszug, bevor das Spiel am Damenflügel beginnt. Auf 25... Th4 würde die Überraschung 26.g5! fxg5 27.Tc6 folgen. Denn 26... a5 wird mit 27.b5 nebst Ta6 und 26... Th1 mit 27.Txa6 Tb1 28.Ta8+ Kf7 29.Ta7+ Kf8 30.Kd2 widerlegt.
Ob dies oder 29.a4 Tb1 30.b5 Tb2+ 31.Kd1 f5 32.Tb7! Ta2 33.b6 Txa4 34.Ta7, ist Geschmackssache. Zu spät kommt 30.a4 Kd8 31.a5.
Ein letzter technischer Trick: Um den bBauern loszueisen, opfert Weiß den a-Bauern.
35.Kd1 29... Ke8
Oder 34... Tb2+ Tb1+ 36.Kc2.
1–0, Schwarz verliert noch den Be4. Eine glasklare Partie!