Putin als Halbgott in Weiß
Auf den Essay von Hans Rauscher gab es zahlreiche User-Reaktionen, in Postings und in einem eigens dazu eingerichteten Chat. Hier eine Auswahl der Themen. Link zum Chat: derStandard.at/Was-ist-buergerlich.
Russlands Präsident Wladimir Putin (2. v. li.) wird am Sonntag zweifellos zum vierten Mal in seinem Amt bestätigt werden – am Freitag war er aber bei einem Wahlkampftermin plötzlich als Primar unterwegs. Unterdessen spitzte sich der Konflikt zwischen Russland und Großbritannien im Zusammenhang mit einem vergifteten Doppelspion weiter zu.
1. Hat das liberale Bürgertum die Solidarität mit den unteren Schichten aufgekündigt? Posting von „gaunka“Das liberale Bürgertum hat schlicht geistigen Landesverrat begangen, indem es die nationale Solidarität mit den unteren Schichten aufgekündigt hat und stattdessen für die eigenen kosmopolitischen Interessen trommelte. Warum sollte es für den Staat von Nutzen sein, wenn eine tendenziell ziemlich vermögende Schicht eine wichtige Rolle spielt, in deren Überlegungen Liberalismus an oberster Stelle ist, das Wohl des gesamten Volkes aber nicht? Wie kann eine Schicht der Demokratie dienen, wenn sie gleichzeitig nicht mehr bereit ist, sich um die Grenzen dieser Demokratie (geografisch, kulturell usw.) zu kümmern? Das Bürgertum früherer Zeiten hatte einen gewissen Bezug zum Volk und zur Nation, heute ist man nur mehr internationalistisch-liberal.
Antwort von Hans Rauscher: Im Sinne des US-Kultursoziologen Mark Lilla hat die Linke die Solidarität aufgekündigt, weil sie sich nur um Identitätsfragen wie gegenderte Klos gekümmert habe. Da ist was dran, und es ist auch was dran, dass sich Bobos (bourgeoise Bohemiens) eher um Flüchtlinge kümmern als um deklassierte Arbeiter im „Rust Belt“. Aber die Grundhaltung des liberalen Bürgertums ist immer solidarisch – und wenn die rechten Arbeiter es zulassen, dann werden sich die Bobos auch um eine Verbesserung ihrer Lage kümmern wollen. 2. Definiert sich „bürgerlich“über das Verhältnis zum eigenen Besitz und Vorteil? Posting von „I am who I am“ Bürgerlich = Besitzbürgertum. Sie folgen – meinen Erfahrungen nach – ihrer Lebenseinstellung: ICH will mehr für MICH und MEINE Sippe. Sie fühlen sich denen gegenüber überlegen, von denen sie erwarten, dass sie jene Leistung erbringen, die den Besitzbürgern zugutekommt. Sie stellen sich nach außen hin als (christlich) soziale Menschen dar, achten aber penibel darauf, dass ihr Besitz stetig wächst und durch nichts gefährdet wird. Deshalb sind sie geistig eher rückwärtsgewandt (konservativ) und stehen Neuerungen skeptisch gegenüber. Politisch sind sie feige, verwalten das Bestehende, also ihren Besitz, mit Fokus auf ihren eigenen Vorteil 3. Wird durch den Anstrich des „Bürgerlichen“rechtsnationale Politik salonfähig gemacht? Posting von „LaTuja“ Bürgerliche Regierung, im Sinne der Bürger, die nach traditionellen Vorstellungen leben, Mann arbeitet, Frau ist zu Hause bei den Kindern, man fühlt sich als autochthoner Österreicher Ausländern gegenüber überlegen und ist (heimlich) gegen die EU? Dann ist dieser Begriff eher zu den Blauen gewandert, aber mit einer aggressiven und restriktiven Note. Die Bürgerlichen bedienen sich einer nationalpopulistischen Partei, werten diese auf, indem sie ihre Ideen und Sprache in gemilderter Form übernehmen.
Wir haben also eine bürgerliche Regierung, die ganz offiziell über geneigte Medien rechtsnationales Gedanken vertritt und durch den Anstrich des „Bürgerlichen“salonfähig macht. 4. Verläuft eine Trennlinie zwischen autoritärer und liberaler Bürgerlichkeit auch innerhalb der ÖVP? Wann könnte das zu einem Problem für die Partei werden? Posting von „pola“ Diese von Kurz gewollte Spaltung (was ist bürgerlich) geht zurzeit auch mitten durch die ÖVP. Eigentlich müsste der Bundeskanzler (das war nach einer Wende) immer so nach elf Wochen mindestens fünf Prozent gegenüber der letzten Wahl mehr Zustimmung haben. Hat er nicht, weil sich die ÖVP inzwischen gespalten hat, in Türkise, die sich von der FPÖ in Sachen Populismus und Opportunismus nicht mehr unterscheiden. Die Landesparteien
jedoch, wie z. B. Mikl Leitner oder G. Platter, geben sich eher als bürgerlich. 5. User „Jack Facts“postuliert, dass die Einteilung in links und rechts überholt und die neue ÖVP ideologielos sei. Posting von „Jack Facts“Die Links-bürgerlich-rechts-Einteilung ist völlig überholt, politische Grenzziehungen dieser Art gibt es nicht mehr, da es am ideologischen Unterbau fehlt. Am ehesten findet sich dieser noch bei rechts (leider). Dieser stellt witzigerweise auch die Identitätsstiftung der „Linke“dar. Das Ergebnis: eine opportunistische, ideologielose Türkisbewegung mit einem Kanzler ohne erkennbar Werte und ohne Verantwortungsbewusstsein. Türkis hat von Anfang an klargemacht, kein Profil anzustreben außer: Folgt dem Kurzen, alles wird gut. Insofern gibt es aus meiner Sicht den Diskussionsgegenstand nicht.
Antwort von Hans Rauscher
Das ist ein verbreiteter Irrglaube, dass es kein „links“und „rechts“mehr gibt. Bei manchen Fragen ist das Gegensatzpaar eher „liberal“gegenüber „rechts“– etwa bei der Behandlung von Minderheiten. Aber einer der Gründe, warum sich SPÖ und ÖVP auseinandergelebt haben, war eine klare ideologische Unterscheidung. Die ÖVP wollte mehr wirtschaftliche, unternehmerische Freiheit, die SPÖ wollte den traditionell starken staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft nicht aufgeben. Die SPÖ wollte/will Vermögen und Erbschaften besteuern, die ÖVP nicht. 6. Kann man die Bundesregierung als rechtspopulistisch bezeichnen? Was ist an der aktuellen Regierungspolitik überhaupt noch bürgerlich? Posting von „NC66“Rechtspopulistisch ist diese Regierung, und damit lehne ich mich ziemlich weit aus dem Fenster, stehen doch beide Regierungsparteien weit, weit rechts der roten Linie. Man sehe sich an, wie die #doppelblauen #Sozialabbauer einen Keil nach dem anderen in die Gesellschaft treiben, die Demokratie aushebeln, den Zusammenhalt hintertreiben, Straftaten hochstilisieren zur Infragestellung des Abendlandes. 7. User „Postingname2014“merkt an, dass „bürgerlich-liberal“ein diffuser Begriff ist. Posting von „Postingname2014“ Unter bürgerlich oder konservativ verstehe ich, dass man in allen Bereichen eine konservative Politik wünscht, und diese Gruppe kann man daher dann auch gut einschätzen. Diffus wird es erst, wenn bürgerlich mit liberal vermischt wird. Bürgerlich-liberal kann von SPÖ bis Neos alles mögliche sein, und meist wird dann konservative Wirtschafts- und Sozialpolitik mit linker Gesellschaftspolitik kombiniert. Für die Linke geht diese Kombination nie gut aus, und davon profitieren dann wieder die Rechtspopulisten. 8. Erleben wir eine Polarisierung der Gesellschaft, weil ein gemeinsames Wertegerüst fehlt? Posting von „Brainfart“„Bis zu einem gewissen Grad geht es also im Österreich der nächsten Jahre um autoritäre gegen liberale Bürgerlichkeit.“Sehr richtig: Es geht darum, wer hat Angst vor der Zukunft und will das Heute und Gestern zementieren. Und wer hat Mut, die Zukunft zu gestalten anhand der Werte die unsere Gesellschaft ausmachen.
Die Schwierigkeit ist nur, dass wir kein homogenes Wertegerüst (bzw. zu viele verschiedene) in unserer Gesellschaft haben. Not und Armut verbindet die Menschen, relativer Wohlstand und Freiheit segregiert die Menschen 9. Es gibt keine Bürgerlichen in Österreich. Posting von „Alfred J. Noll“: Kein „Bürgerlicher“würde sein „Bürger- lich-Sein“zum Thema von Reflexion oder Diskussion machen. Er wäre stets „bei sich zu Haus“, und wir können’s kaum besser sagen als mit Egon Friedell: „Am Sonntag ist die Bibel sein Hauptbuch, und am Wochentag ist das Hauptbuch seine Bibel.“Holt man diese schöne Kennzeichnung aus dem Metaphernhimmel auf die Erde – wo die sich bürgerlich Wähnenden nicht mehr beten wollen (keine Haltung haben) und nicht mehr rechnen können (im „Nulldefizit“die einzige Substanz des volkswirtschaftlichen Dekalogs erblicken) – dann kommt man rasch zu einer Antwort: Es gibt bei uns keine „Bürgerlichen“. Der Begriff ist ein ideologischer Abglanz vergangener Zeiten, der nicht zu retten ist. 10. User „Zathras“bezeichnet sich selbst als bürgerlich und will nicht einsehen, warum der Begriff „bürgerlich“für „rechts/konservativ“vereinnahmt wird. Posting von „Zathras“„Bürgerlich“– Trifft auf mich glaube ich durchaus zu. Stadtbürger in vierter Generation, Akademiker in dritter Generation. Viel mehr Bücher geerbt, als ich brauchen kann. Mehrere Musikinstrumente geerbt, von denen ich leider nur manche spielen kann. Dort, wo ich wohne, gehören viele zu dem Milieu, und viele weitere sind „zugereist“und haben sich dem Milieu angeschlossen. 20 Jahre nach dem Studium ist kein Unterschied festzustellen. Warum der Begriff „bürgerlich“für „rechts/konservativ“vereinnahmt wird, sehe ich nicht ein. Die klassischen bürgerlichen Gegenden von Graz wählen anders (80 % VdB, nicht mehr als 12 % FPÖ).