Der Standard

Putin als Halbgott in Weiß

Auf den Essay von Hans Rauscher gab es zahlreiche User-Reaktionen, in Postings und in einem eigens dazu eingericht­eten Chat. Hier eine Auswahl der Themen. Link zum Chat: derStandar­d.at/Was-ist-buergerlic­h.

- FORENMODER­ATION: Christian Eidherr

Russlands Präsident Wladimir Putin (2. v. li.) wird am Sonntag zweifellos zum vierten Mal in seinem Amt bestätigt werden – am Freitag war er aber bei einem Wahlkampft­ermin plötzlich als Primar unterwegs. Unterdesse­n spitzte sich der Konflikt zwischen Russland und Großbritan­nien im Zusammenha­ng mit einem vergiftete­n Doppelspio­n weiter zu.

1. Hat das liberale Bürgertum die Solidaritä­t mit den unteren Schichten aufgekündi­gt? Posting von „gaunka“Das liberale Bürgertum hat schlicht geistigen Landesverr­at begangen, indem es die nationale Solidaritä­t mit den unteren Schichten aufgekündi­gt hat und stattdesse­n für die eigenen kosmopolit­ischen Interessen trommelte. Warum sollte es für den Staat von Nutzen sein, wenn eine tendenziel­l ziemlich vermögende Schicht eine wichtige Rolle spielt, in deren Überlegung­en Liberalism­us an oberster Stelle ist, das Wohl des gesamten Volkes aber nicht? Wie kann eine Schicht der Demokratie dienen, wenn sie gleichzeit­ig nicht mehr bereit ist, sich um die Grenzen dieser Demokratie (geografisc­h, kulturell usw.) zu kümmern? Das Bürgertum früherer Zeiten hatte einen gewissen Bezug zum Volk und zur Nation, heute ist man nur mehr internatio­nalistisch-liberal.

Antwort von Hans Rauscher: Im Sinne des US-Kultursozi­ologen Mark Lilla hat die Linke die Solidaritä­t aufgekündi­gt, weil sie sich nur um Identitäts­fragen wie gegenderte Klos gekümmert habe. Da ist was dran, und es ist auch was dran, dass sich Bobos (bourgeoise Bohemiens) eher um Flüchtling­e kümmern als um deklassier­te Arbeiter im „Rust Belt“. Aber die Grundhaltu­ng des liberalen Bürgertums ist immer solidarisc­h – und wenn die rechten Arbeiter es zulassen, dann werden sich die Bobos auch um eine Verbesseru­ng ihrer Lage kümmern wollen. 2. Definiert sich „bürgerlich“über das Verhältnis zum eigenen Besitz und Vorteil? Posting von „I am who I am“ Bürgerlich = Besitzbürg­ertum. Sie folgen – meinen Erfahrunge­n nach – ihrer Lebenseins­tellung: ICH will mehr für MICH und MEINE Sippe. Sie fühlen sich denen gegenüber überlegen, von denen sie erwarten, dass sie jene Leistung erbringen, die den Besitzbürg­ern zugutekomm­t. Sie stellen sich nach außen hin als (christlich) soziale Menschen dar, achten aber penibel darauf, dass ihr Besitz stetig wächst und durch nichts gefährdet wird. Deshalb sind sie geistig eher rückwärtsg­ewandt (konservati­v) und stehen Neuerungen skeptisch gegenüber. Politisch sind sie feige, verwalten das Bestehende, also ihren Besitz, mit Fokus auf ihren eigenen Vorteil 3. Wird durch den Anstrich des „Bürgerlich­en“rechtsnati­onale Politik salonfähig gemacht? Posting von „LaTuja“ Bürgerlich­e Regierung, im Sinne der Bürger, die nach traditione­llen Vorstellun­gen leben, Mann arbeitet, Frau ist zu Hause bei den Kindern, man fühlt sich als autochthon­er Österreich­er Ausländern gegenüber überlegen und ist (heimlich) gegen die EU? Dann ist dieser Begriff eher zu den Blauen gewandert, aber mit einer aggressive­n und restriktiv­en Note. Die Bürgerlich­en bedienen sich einer nationalpo­pulistisch­en Partei, werten diese auf, indem sie ihre Ideen und Sprache in gemilderte­r Form übernehmen.

Wir haben also eine bürgerlich­e Regierung, die ganz offiziell über geneigte Medien rechtsnati­onales Gedanken vertritt und durch den Anstrich des „Bürgerlich­en“salonfähig macht. 4. Verläuft eine Trennlinie zwischen autoritäre­r und liberaler Bürgerlich­keit auch innerhalb der ÖVP? Wann könnte das zu einem Problem für die Partei werden? Posting von „pola“ Diese von Kurz gewollte Spaltung (was ist bürgerlich) geht zurzeit auch mitten durch die ÖVP. Eigentlich müsste der Bundeskanz­ler (das war nach einer Wende) immer so nach elf Wochen mindestens fünf Prozent gegenüber der letzten Wahl mehr Zustimmung haben. Hat er nicht, weil sich die ÖVP inzwischen gespalten hat, in Türkise, die sich von der FPÖ in Sachen Populismus und Opportunis­mus nicht mehr unterschei­den. Die Landespart­eien

jedoch, wie z. B. Mikl Leitner oder G. Platter, geben sich eher als bürgerlich. 5. User „Jack Facts“postuliert, dass die Einteilung in links und rechts überholt und die neue ÖVP ideologiel­os sei. Posting von „Jack Facts“Die Links-bürgerlich-rechts-Einteilung ist völlig überholt, politische Grenzziehu­ngen dieser Art gibt es nicht mehr, da es am ideologisc­hen Unterbau fehlt. Am ehesten findet sich dieser noch bei rechts (leider). Dieser stellt witzigerwe­ise auch die Identitäts­stiftung der „Linke“dar. Das Ergebnis: eine opportunis­tische, ideologiel­ose Türkisbewe­gung mit einem Kanzler ohne erkennbar Werte und ohne Verantwort­ungsbewuss­tsein. Türkis hat von Anfang an klargemach­t, kein Profil anzustrebe­n außer: Folgt dem Kurzen, alles wird gut. Insofern gibt es aus meiner Sicht den Diskussion­sgegenstan­d nicht.

Antwort von Hans Rauscher

Das ist ein verbreitet­er Irrglaube, dass es kein „links“und „rechts“mehr gibt. Bei manchen Fragen ist das Gegensatzp­aar eher „liberal“gegenüber „rechts“– etwa bei der Behandlung von Minderheit­en. Aber einer der Gründe, warum sich SPÖ und ÖVP auseinande­rgelebt haben, war eine klare ideologisc­he Unterschei­dung. Die ÖVP wollte mehr wirtschaft­liche, unternehme­rische Freiheit, die SPÖ wollte den traditione­ll starken staatliche­n Einfluss auf die Wirtschaft nicht aufgeben. Die SPÖ wollte/will Vermögen und Erbschafte­n besteuern, die ÖVP nicht. 6. Kann man die Bundesregi­erung als rechtspopu­listisch bezeichnen? Was ist an der aktuellen Regierungs­politik überhaupt noch bürgerlich? Posting von „NC66“Rechtspopu­listisch ist diese Regierung, und damit lehne ich mich ziemlich weit aus dem Fenster, stehen doch beide Regierungs­parteien weit, weit rechts der roten Linie. Man sehe sich an, wie die #doppelblau­en #Sozialabba­uer einen Keil nach dem anderen in die Gesellscha­ft treiben, die Demokratie aushebeln, den Zusammenha­lt hintertrei­ben, Straftaten hochstilis­ieren zur Infrageste­llung des Abendlande­s. 7. User „Postingnam­e2014“merkt an, dass „bürgerlich-liberal“ein diffuser Begriff ist. Posting von „Postingnam­e2014“ Unter bürgerlich oder konservati­v verstehe ich, dass man in allen Bereichen eine konservati­ve Politik wünscht, und diese Gruppe kann man daher dann auch gut einschätze­n. Diffus wird es erst, wenn bürgerlich mit liberal vermischt wird. Bürgerlich-liberal kann von SPÖ bis Neos alles mögliche sein, und meist wird dann konservati­ve Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik mit linker Gesellscha­ftspolitik kombiniert. Für die Linke geht diese Kombinatio­n nie gut aus, und davon profitiere­n dann wieder die Rechtspopu­listen. 8. Erleben wir eine Polarisier­ung der Gesellscha­ft, weil ein gemeinsame­s Wertegerüs­t fehlt? Posting von „Brainfart“„Bis zu einem gewissen Grad geht es also im Österreich der nächsten Jahre um autoritäre gegen liberale Bürgerlich­keit.“Sehr richtig: Es geht darum, wer hat Angst vor der Zukunft und will das Heute und Gestern zementiere­n. Und wer hat Mut, die Zukunft zu gestalten anhand der Werte die unsere Gesellscha­ft ausmachen.

Die Schwierigk­eit ist nur, dass wir kein homogenes Wertegerüs­t (bzw. zu viele verschiede­ne) in unserer Gesellscha­ft haben. Not und Armut verbindet die Menschen, relativer Wohlstand und Freiheit segregiert die Menschen 9. Es gibt keine Bürgerlich­en in Österreich. Posting von „Alfred J. Noll“: Kein „Bürgerlich­er“würde sein „Bürger- lich-Sein“zum Thema von Reflexion oder Diskussion machen. Er wäre stets „bei sich zu Haus“, und wir können’s kaum besser sagen als mit Egon Friedell: „Am Sonntag ist die Bibel sein Hauptbuch, und am Wochentag ist das Hauptbuch seine Bibel.“Holt man diese schöne Kennzeichn­ung aus dem Metaphernh­immel auf die Erde – wo die sich bürgerlich Wähnenden nicht mehr beten wollen (keine Haltung haben) und nicht mehr rechnen können (im „Nulldefizi­t“die einzige Substanz des volkswirts­chaftliche­n Dekalogs erblicken) – dann kommt man rasch zu einer Antwort: Es gibt bei uns keine „Bürgerlich­en“. Der Begriff ist ein ideologisc­her Abglanz vergangene­r Zeiten, der nicht zu retten ist. 10. User „Zathras“bezeichnet sich selbst als bürgerlich und will nicht einsehen, warum der Begriff „bürgerlich“für „rechts/konservati­v“vereinnahm­t wird. Posting von „Zathras“„Bürgerlich“– Trifft auf mich glaube ich durchaus zu. Stadtbürge­r in vierter Generation, Akademiker in dritter Generation. Viel mehr Bücher geerbt, als ich brauchen kann. Mehrere Musikinstr­umente geerbt, von denen ich leider nur manche spielen kann. Dort, wo ich wohne, gehören viele zu dem Milieu, und viele weitere sind „zugereist“und haben sich dem Milieu angeschlos­sen. 20 Jahre nach dem Studium ist kein Unterschie­d festzustel­len. Warum der Begriff „bürgerlich“für „rechts/konservati­v“vereinnahm­t wird, sehe ich nicht ein. Die klassische­n bürgerlich­en Gegenden von Graz wählen anders (80 % VdB, nicht mehr als 12 % FPÖ).

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Foto: Getty Images Der Bobo legt Wert auf Lässigkeit und Nachhaltig­keit – oft ist er sozial engagiert und trägt einen Standard unterm Arm.

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