Kurdische Hochburg Afrin unter türkischer Kontrolle
Hunderttausende aus Kurdenstadt in Nordwestsyrien geflohen – „Schreckliche“Zustände in der Ostghouta
Am 20. Jänner hatte die Türkei die Offensive in Nordwestsyrien gestartet, am Sonntag vermeldete sie, die mehrheitlich kurdische Stadt Afrin eingenommen zu haben. Anhänger der mit Ankara verbündeten Free Syrian Army hissten ihre Fahne vor der zerstörten Statue von Kawa. Sie symbolisiert einen kurdischen Schmied, der der Legende nach einen tyrannischen König getötet haben soll. Für die Einmarschierenden ist Afrin „vom Terror befreit“, die Kurden kündigten „Widerstand gegen die türkische Besatzung“an.
Afrin/Damaskus/Ankara – Rund zwei Monate nach Beginn der türkischen Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordwestsyrien sind die türkischen Truppen und ihre Verbündeten am Sonntag in die mehrheitlich kurdische Stadt Afrin vorgedrungen. Das Zentrum sei „vollständig“erobert, verkündete der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan.
Ein Sprecher der mit Ankara verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) sagte, sie seien am Sonntag an drei Fronten in die Stadt eingerückt, ohne dabei auf Widerstand gestoßen zu sein.
Die Kurden kündigten aber Widerstand an, der andauern werde, bis „jeder Quadratzentimeter von Afrin befreit ist“. Der Krieg „gegen die türkische Besatzung“sei „in eine neue Phase“eingetreten. Von einer direkten Konfrontation gehe man nun zu Überraschungsangriffen über, hieß es in einer Erklärung der halbautonomen Region. Die Widerstandskämpfer würden für die türkische Armee und ihre Verbündeten zum „ständigen Albtraum“werden.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte waren am Sonntag noch Gefechte im Gang, weil einige Kämpfer sich weigerten aufzugeben. Die türkischen Truppen hätten aber die Kontrolle.
Offenbar Spital angegriffen
Laut der Beobachtungsstelle, deren Berichte unabhängig kaum zu überprüfen sind, flohen in den vergangenen Tagen mindestens 200.000 Zivilisten aus Afrin. Die Stadt werde evakuiert, um „eine schlimmere Katastrophe an Zivilisten“zu vermeiden, teilte die kurdische Regionalregierung mit. Demnach strebten die Menschen in andere kurdisch-kontrollierte Gebiete oder in Gegenden, die von der syrischen Regierung beherrscht würden. Ankara wies Berichte zurück, wonach in Afrin ein Krankenhaus bombardiert und Zivilisten getötet worden seien. Nach Angaben von Ärzten, dem Roten Halbmond und der Beobachtungsstelle wurden am Freitag 16 Zivilisten beim Beschuss eines Spitals in der Stadt getötet.
Ankara sieht die kurdische YPG-Miliz wegen ihrer engen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Terrorgruppe an und will ihre Offensive auch auf andere Kurdengebiete ausweiten. Die PKK steht in der Türkei, der EU und den USA auf der Terrorliste, die YPG dagegen ist wichtiger Partner der USA im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS).
Flucht aus Ostghouta
Auch an einem anderen Schauplatz des syrischen Bürgerkriegs verschärfte sich am Wochenende die Lage: Allein am Sonntag sollen nach russischen Angaben 20.000 Menschen aus der syrischen Ostghouta geflohen sein. Seit der Öffnung von Fluchtkorridoren hätten mehr als 68.000 Menschen das Kampfgebiet nahe Damaskus verlassen. Das UN-Nothilfebüro Ocha sprach von mindestens 20.000 Flüchtlingen in der vergangenen Woche.
Syriens Staats-TV zeigte Flüchtlingskonvois, die aus der Region Ostghouta in die Regierungszone strömten. Augenzeugen berichteten, von Rebellengruppen an der Flucht gehindert worden zu sein. Das UN-Büro sprach von einer „schrecklichen“Lage in der Ostghouta, Tagesrationen von Brot müssten derzeit zehn Tage reichen. Die hygienischen Bedingungen seien absolut unzureichend und die Gefahr für die Verbreitung von Krankheiten gestiegen. (AFP, red)
Wären Worte Granaten, es wäre schon auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor vier Wochen scharf geschossen worden. Die rhetorischen Salven, die etwa der türkische Ministerpräsident dort auf seine Alliierten abfeuerte, waren beispiellos. Binali Yıldırım ging sogar so weit, dass er die Nato-Partner auf offener Bühne bezichtigte, „mit Terroristen zu kooperieren“. Der Grund war auch damals schon Afrin, wo sich nun türkische Streitkräfte und US-unterstützte Kurdenmilizen bekämpfen.
Die türkisch-kurdisch-syrische Grenze ist inzwischen eine Art geopolitische Sollbruchstelle geworden, an der das Nato-Mitglied Türkei gemeinsame Sache mit den Erzfeinden der Amerikaner – Russland und Iran – macht. Die Vereinigten Staaten ihrerseits sind nicht in der Lage, ihre Verbündeten in Ankara von einer Intervention abzuhalten, die für die meisten Beobachter völkerrechtswidrig ist und jedenfalls gegen die Interessen der USA läuft. Anders gesagt: Jeder Schuss, der in Afrin fällt, ist auch ein Schuss ins Knie der Nato.
Waren die Türken schon zuletzt schwierige Partner im Nordatlantikpakt, haben es vor allem US-Präsidenten verstanden, die Situation unter Kontrolle und Ankara bei der Stange zu halten. Dafür scheint Donald Trump weder Mittel noch Interesse zu haben. Es gibt keine gemeinsame Nato-Strategie für Syrien. Die Folge: Die Türkei mag im syrischen Kurdistan gewinnen, die Nato wird verlieren – diesmal nicht gegen die Russen, sondern gegen innere Feinde.