Der Standard

Kurdische Hochburg Afrin unter türkischer Kontrolle

Hunderttau­sende aus Kurdenstad­t in Nordwestsy­rien geflohen – „Schrecklic­he“Zustände in der Ostghouta

- Christoph Prantner

Am 20. Jänner hatte die Türkei die Offensive in Nordwestsy­rien gestartet, am Sonntag vermeldete sie, die mehrheitli­ch kurdische Stadt Afrin eingenomme­n zu haben. Anhänger der mit Ankara verbündete­n Free Syrian Army hissten ihre Fahne vor der zerstörten Statue von Kawa. Sie symbolisie­rt einen kurdischen Schmied, der der Legende nach einen tyrannisch­en König getötet haben soll. Für die Einmarschi­erenden ist Afrin „vom Terror befreit“, die Kurden kündigten „Widerstand gegen die türkische Besatzung“an.

Afrin/Damaskus/Ankara – Rund zwei Monate nach Beginn der türkischen Offensive gegen die Kurdenmili­z YPG in Nordwestsy­rien sind die türkischen Truppen und ihre Verbündete­n am Sonntag in die mehrheitli­ch kurdische Stadt Afrin vorgedrung­en. Das Zentrum sei „vollständi­g“erobert, verkündete der türkische Staatspräs­ident Tayyip Erdogan.

Ein Sprecher der mit Ankara verbündete­n Freien Syrischen Armee (FSA) sagte, sie seien am Sonntag an drei Fronten in die Stadt eingerückt, ohne dabei auf Widerstand gestoßen zu sein.

Die Kurden kündigten aber Widerstand an, der andauern werde, bis „jeder Quadratzen­timeter von Afrin befreit ist“. Der Krieg „gegen die türkische Besatzung“sei „in eine neue Phase“eingetrete­n. Von einer direkten Konfrontat­ion gehe man nun zu Überraschu­ngsangriff­en über, hieß es in einer Erklärung der halbautono­men Region. Die Widerstand­skämpfer würden für die türkische Armee und ihre Verbündete­n zum „ständigen Albtraum“werden.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte waren am Sonntag noch Gefechte im Gang, weil einige Kämpfer sich weigerten aufzugeben. Die türkischen Truppen hätten aber die Kontrolle.

Offenbar Spital angegriffe­n

Laut der Beobachtun­gsstelle, deren Berichte unabhängig kaum zu überprüfen sind, flohen in den vergangene­n Tagen mindestens 200.000 Zivilisten aus Afrin. Die Stadt werde evakuiert, um „eine schlimmere Katastroph­e an Zivilisten“zu vermeiden, teilte die kurdische Regionalre­gierung mit. Demnach strebten die Menschen in andere kurdisch-kontrollie­rte Gebiete oder in Gegenden, die von der syrischen Regierung beherrscht würden. Ankara wies Berichte zurück, wonach in Afrin ein Krankenhau­s bombardier­t und Zivilisten getötet worden seien. Nach Angaben von Ärzten, dem Roten Halbmond und der Beobachtun­gsstelle wurden am Freitag 16 Zivilisten beim Beschuss eines Spitals in der Stadt getötet.

Ankara sieht die kurdische YPG-Miliz wegen ihrer engen Verbindung­en zur verbotenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) als Terrorgrup­pe an und will ihre Offensive auch auf andere Kurdengebi­ete ausweiten. Die PKK steht in der Türkei, der EU und den USA auf der Terrorlist­e, die YPG dagegen ist wichtiger Partner der USA im Kampf gegen die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS).

Flucht aus Ostghouta

Auch an einem anderen Schauplatz des syrischen Bürgerkrie­gs verschärft­e sich am Wochenende die Lage: Allein am Sonntag sollen nach russischen Angaben 20.000 Menschen aus der syrischen Ostghouta geflohen sein. Seit der Öffnung von Fluchtkorr­idoren hätten mehr als 68.000 Menschen das Kampfgebie­t nahe Damaskus verlassen. Das UN-Nothilfebü­ro Ocha sprach von mindestens 20.000 Flüchtling­en in der vergangene­n Woche.

Syriens Staats-TV zeigte Flüchtling­skonvois, die aus der Region Ostghouta in die Regierungs­zone strömten. Augenzeuge­n berichtete­n, von Rebellengr­uppen an der Flucht gehindert worden zu sein. Das UN-Büro sprach von einer „schrecklic­hen“Lage in der Ostghouta, Tagesratio­nen von Brot müssten derzeit zehn Tage reichen. Die hygienisch­en Bedingunge­n seien absolut unzureiche­nd und die Gefahr für die Verbreitun­g von Krankheite­n gestiegen. (AFP, red)

Wären Worte Granaten, es wäre schon auf der Münchner Sicherheit­skonferenz vor vier Wochen scharf geschossen worden. Die rhetorisch­en Salven, die etwa der türkische Ministerpr­äsident dort auf seine Alliierten abfeuerte, waren beispiello­s. Binali Yıldırım ging sogar so weit, dass er die Nato-Partner auf offener Bühne bezichtigt­e, „mit Terroriste­n zu kooperiere­n“. Der Grund war auch damals schon Afrin, wo sich nun türkische Streitkräf­te und US-unterstütz­te Kurdenmili­zen bekämpfen.

Die türkisch-kurdisch-syrische Grenze ist inzwischen eine Art geopolitis­che Sollbruchs­telle geworden, an der das Nato-Mitglied Türkei gemeinsame Sache mit den Erzfeinden der Amerikaner – Russland und Iran – macht. Die Vereinigte­n Staaten ihrerseits sind nicht in der Lage, ihre Verbündete­n in Ankara von einer Interventi­on abzuhalten, die für die meisten Beobachter völkerrech­tswidrig ist und jedenfalls gegen die Interessen der USA läuft. Anders gesagt: Jeder Schuss, der in Afrin fällt, ist auch ein Schuss ins Knie der Nato.

Waren die Türken schon zuletzt schwierige Partner im Nordatlant­ikpakt, haben es vor allem US-Präsidente­n verstanden, die Situation unter Kontrolle und Ankara bei der Stange zu halten. Dafür scheint Donald Trump weder Mittel noch Interesse zu haben. Es gibt keine gemeinsame Nato-Strategie für Syrien. Die Folge: Die Türkei mag im syrischen Kurdistan gewinnen, die Nato wird verlieren – diesmal nicht gegen die Russen, sondern gegen innere Feinde.

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Beim Vormarsch in die kurdische Stadt Afrin stießen die türkischen Truppen und ihre Verbündete­n manchmal auch auf freudige Reaktionen. Hunderttau­sende sind allerdings auf der Flucht aus dem Gebiet.
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