Kopf des Tages
Zum Abschluss der Diagonale gab es am Samstag Preise für politisch hellhöriges Kino. Auch sonst überzeugte das Festival als Ort des Dialogs – mit Filmen, die auf die Überwindung von Starrsinn setzten.
Christian Froschs Justizdrama Murer – Anatomie eines Prozesses wurde mit dem Großen Spielfilmpreis der Diagonale ausgezeichnet.
Graz – Anfang und Ende der Diagonale formten in diesem Jahr einen Kreis. Das lag nicht nur daran, dass mit Christian Froschs Justizdrama Murer – Anatomie eines Prozesses der Eröffnungsfilm des Festivals für den österreichischen Film verdient mit dem Großen Spielfilmpreis ausgezeichnet wurde. Froschs mit analytischem, präzis gestaltendem Blick verfahrende Arbeit um ein skandalöses Kapitel Vergangenheit – die Freisprechung des NSKriegsverbrechers Franz Murer 1963 in Graz – gab dem insgesamt politisch hellhörigen Festival den Ton vor. Die Frage, wie heimische Filmschaffende auf die Herausforderung einer zunehmend polarisierten Gesellschaft reagieren, stand öfters im Raum.
Die Antworten überzeugten vor allem dann, wenn der Wille zum Dialog dazu beitrug, Begegnungen, Annäherungen zu gewähren. Ein Dokumentarfilm wie Zu ebener Erde (Regie: Birgit Bergmann, Steffi Franz, Oliver Erwani) gelingt dies durch die Begleitung von Obdachlosen, also all jener, an denen wir gewohnheitshalber vorbeigehen. Das Auge wird auf eine Weise für Lebensbedingungen in den Nischen des Stadtraums sensibilisiert, die an die Tradition der sozialen Dokumentarfilmschule der 1930er-Jahren anknüpft.
Einer ihrer Proponenten, der Brite John Grierson sagte einmal, ein Dokumentarist müsse Gentleman und Sozialist sein. Nikolaus Geyrhalter hat dies in Die bauliche Maßnahme auch beherzigt – freilich nicht streng politisch. Seit einiger Zeit rücken die Filme des profilierten Regisseurs näher an die Menschen heran. Der mit dem Großen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnete Film erinnert gar an die Volksnähe eines Pier Paolo Pasolini, wenn er an- hand der Befragung Einheimischer rund um den Brenner-Pass beweist, wie viel Differenzierungssinn man erntet, wenn man Bürgern genau zuhört. Dies räumt nicht nur mit eigenen Vorurteilen auf, sondern es demonstriert, wie mit medialen Pauschalisierungen umzugehen wäre.
Brüder auf Selbstfindung
Die Annäherung kann aber auch auf rein privater Ebener erfolgen wie in Stefan Bohuns Bruder Jakob, schläfst du noch?, einem der feinfühligsten und gewieftest komponierten Dokumentarfilme dieser Diagonale. Der Regisseur begibt sich gemeinsam mit seinen drei Brüdern auf eine Reise, die sie mit ihrem inneren Zusammenhalt, aber auch latenten Unstimmigkeiten konfrontiert. Der Anlass: Jakob, der fünfte, nahm sich das Leben.
Bruder Jakob, schläfst du noch? kommt trotz dieses schwermütigen Themas ohne Sentimentalitäten aus. Auf einer Bergtour ins Lareintal, später dann noch bei einer Reise nach Porto – Jakobs letztem Wohnsitz – inszeniert Bohun das Bonding und die Selbstbefragung der Brüder und bricht die Settings zugleich auch spielerisch auf. Trauerarbeit heißt hier: Gemeinschaftssinn erproben.
Als eines der ambitioniertesten Debüts erwies sich Alexandra Makarovás Zerschlag mein Herz. Die im slowakischen Košice geborene Regisseurin erzählt in ihrem Spielfilm die Geschichte eines Mädchens und eines Burschen, die als Roma in Wien für den Schutzherrn des Clans arbeiten müssen: Während Pepe als Bettler durch die Straßen zieht, entgeht die aus dem Heimatdorf angereiste Marcela nur deshalb dem Strich, weil ihr „Beschützer“sich in sie verliebt.
Zerschlag mein Herz verbindet seine Romeo-und-Julia-Erzählung mit einem poetischen Realismus, wie man ihn im heimischen Kino sonst kaum sieht. Makarová verzichtet wohlweislich auf die Darstellung expliziter Gewalt und behält sich damit die Möglichkeit eines empathischen Blicks vor.
Ein Hang zum Absurden hingegen ist Loretta Pflaum und Lawrence Tooley (Headshots) nicht abzusprechen: Gatekeeper, so der mysteriöse Titel, dessen Kafka-Bezug sich erst am Ende auflöst, ist ein formales Verwirrspiel, in dem Pflaum als Galerienbesitzerin sich nach einem Unfall einen rumänischen Gast in ihrer Luxuswohnung hält. Gatekeeper wirkt wie eine Gesellschaftsstudie über ökonomische und sexuelle Macht, bei der sich die Figuren wie Probanden lustvoll und unausweichlich ineinander verstricken.
Dass die Distanzüberwindung noch weiter reichen kann, beweist der mit dem Preis für innovatives Kino bedachte , der schon auf dem Filmfestival von Sundance lief. Johann Lurf hat nach ausgiebiger Recherche Sternenbilder der Filmgeschichte von 1905 bis in die Gegenwart aneinandermontiert. Erlaubt war nur, wo im Bild nichts anderes als Gestirn zu sehen war. Der Ton freilich erzählt in dieser die Vorstellungskraft munter ankurbelnden Collage auch davon, wie die Menschheit da oben schon immer sich selbst in Verhältnis zur Ewigkeit setzte. So wird das Kino zum Mittel, noch das Unendliche ein Stück greifbarer zu machen.
Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein Filmemacher nahezu im Alleingang die geschichtspolitische Situation eines Landes verändert. Bei Christian Frosch ist das derzeit mit seinem Film Murer – Anatomie eines Prozesses der Fall. Er erinnert an ein Datum der österreichischen Vergangenheitsbewältigung, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist, und findet darin einen Schlüsselmoment in der Geschichte der Zweiten Republik.
Schon immer hat der 1966 in Waidhofen an der Thaya Geborene sich für historische Themen interessiert. Häufig wählte er dabei eher experimentelle Zugänge, wie mit k.af.ka fragment (2001), in dem er versuchte, sich über eine Collageform dem Genie des Prager jüdischen Schriftstellers zu nähern. Lars Rudolph spielte damals die Hauptrolle, einer der Mitstreiter, die Christian Frosch während seiner Studienzeit in Berlin fand. Die Jahre an der Westberliner Filmhochschule DFFB, nach einer Fotografieausbildung in Wien und einer Zeit an der Wiener Filmakademie, waren prägend für Christian Frosch.
Für seinen ersten Spielfilm Die totale Therapie (1996) konnte er den Musikerstar Blixa Bargeld für eine Hauptrolle gewinnen – die wilde Geschich- te einer psychologischen Gruppenerfahrung zeigte Frosch auch stark beeinflusst von Genrekino. Lustvoll trieb er die Logiken von Blut- und Beuschelfilmen auf die Spitze, dabei schien immer ein seriöses Interesse an Psychologie durch.
Das Image eines Bilderstürmers erwies sich in der Folge als nicht immer förderlich für seine Karriere. So gab es in den Nullerjahren auch längere Pausen, unter anderem gründete Frosch damals auch eine Produktionsfirma mit dem Namen Weltfilm. Für Murer – Anatomie eines Prozesses tat Frosch sich aber mit der Produktionsfirma Prisma zusammen. Die Konstellation hatte sich schon 2014 bei Von jetzt an kein Zurück bewährt, in dem er die Geschichte eines Paares erzählte, das von den Befreiungsenergien der 68er ins Schleudern gebracht wird.
2016 gab es dafür einen Österreichischen Filmpreis für das beste Drehbuch. Und mit diesem „Comeback“hatte Christian Frosch die Voraussetzungen geschaffen, dass er sich einer Figur zuwenden konnte, auf die er bei einem Besuch im Jüdischen Museum von Vilnius aufmerksam geworden war und über die er mehr wissen wollte: Franz Murer. Das Ergebnis seiner Neugierde wurde nun bei der Diagonale als bester Spielfilm ausgezeichnet.