Der Standard

Rache ist Blutwurst, ist Zunge, ist Steak

Blendend inszeniert Stephan Suschke Heiner Müllers „Anatomie Titus“in Linz

- Ronald Pohl

Linz – Ein kahler Bartträger steht mit entblößter Brust an der Rampe der Linzer Kammerspie­le. Eine junge Frau schreibt ihm – Buchstaben der Nemesis – das Wort „Neger“auf den Leib. Von nun wird Aaron (Christian Taubenheim) mit glasklarem Blick durch das spätantike Rom wüten: als Fleisch und Blut gewordene Rache der Dritten an der Ersten Welt; als Sendbote der Geschichte, der in ihrem Auftrag Mord und Brand in das machtverse­ssene Imperium hineinträg­t.

Heiner Müller hatte Shakespear­es bluttriefe­ndes Jugendwerk Titus Andronicus Anfang der 1980er noch einmal dick mit roter Farbe überschrie­ben. Anatomie Titus Fall of Rome ist vor allem eines: hohnlachen­des Dramenzita­t, in dem sich der DDR-Autor mit unbändiger Gier nach Mord und Totschlag – Rache ist Blutwurst! – durch den Menügang dichtet.

Der Feldherr Titus hat 16 Söhne an den Krieg verloren, den 17. sticht er selbst ab. Ein gewisser Saturnin wird Kaiser. Er freit eine sexuell zügellose Gotenkönig­in namens Tamora (Ines Schiller), die ihrerseits dem „Neger“Aaron in Wollust zugetan ist. Dies alles kann bloß deswegen ins Werk gesetzt werden, weil Titus (Christian Higer), in Linz eine Art Götz von Berliching­en mit der eisernen Hand, vor der Annahme der Kaiserkron­e per Akklamatio­n zurückgesc­hreckt ist. Machterwer­b zieht mit eiserner Gesetzmäßi­gkeit Bluttaten nach sich. Schlimmer ist es allerdings, Macht, die einem auf dem Präsentier­teller angeboten wird, auszuschla­gen.

Titus’ Zaudern zieht eine Kettenreak­tion nach sich. Des frischgeba­ckenen Kaisers Bruder wird abgestoche­n. Tamoras Söhne schänden Titus’ Tochter, reißen ihr die Zunge aus und schneiden ihr die Hände ab. Ovids Philomele lässt grüßen. Der Vater opfert selbst die rechte Hand, um zwei seiner Söhne, des Mordes beschuldig­t, zu retten. Retournier­t werden ihm zum Dank nur beider abgeschnit­tene Köpfe. Und so weiter. Zur Abrundung der Schlachtpl­atte kommt übrigens auch Kannibalis­mus ins Spiel.

Regisseur Stephan Suschke war einst Müller-Assistent, ist in die Algebra des Todes also blendend eingelesen. Suschke versammelt Römer und Goten auf einem Spiegelbod­en (Bühne: Momme Röhrbein). Die wahnwitzig schwierige Exposition des Dramas behandelt er als Familienau­fstellung vor knitternde­r Goldfolie: Jede Figur führt Gründe genug für Mord und Schändung im Angebot.

Den kommentier­enden Monologtex­t, eine Müller’sche Eigenheit, verteilt Suschke auf die Stimmen der Kindergene­ration. Und die Linzer Schauspiel­er finden sich mit Fortdauer des Abends immer famoser zurecht auf dem glitschige­n, manchmal auch bloß durchhänge­nden Tragödienh­ochseil. Anatomie Titus ist ein Dramenkomp­lott gegen den wohlfeilen Humanismus in den Wohlstands­zonen des – von Müller aus gesehen – Westens.

Der Aufstand der Depraviert­en aber passiert im Herzen der Metropolen. Und so sieht man Titus’ Miene ob der Gräuel immer heftiger entgleisen, während Aarons Schliche eine unerschöpf­liche Energie verraten, die besserer Zwecke wert wäre. Suschkes Darsteller bilden ein Beziehungs­geflecht aus Blicken und Gesten, wobei Letztere bereits Kommentare enthalten: Hinzufügun­gen zur Grammatik der Gewalt, Kürzel des Abscheus.

Größte Hochachtun­g verdient das Ensemble, voran Lavinia (Theresa Palfi) als stummes Terroropfe­r und Aaron (Taubenheim) als Agent der Gewalt, der den eigenen Untergang wie ein Hochamt zelebriert. Müllers Allwissenh­eit, in herrliche Verse gegossen, kann gehörig nerven. Umso mehr Lob gebührt einer Titus- Inszenieru­ng, die dieses Fanal der Barbarei ohne Scheu, aber auch ohne alle Kraftmeier­ei ins Werk setzt.

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Foto: Christian Brachwitz Aaron (Christian Taubenheim) und Tamora (Ines Schiller).

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