Der Standard

Kopf des Tages

Schüler, die im Februar einen Amoklauf in Florida überlebt hatten, organisier­ten den „March for Our Lives“in Washington. Hunderttau­sende kamen und forderten strengere Waffengese­tze.

- Frank Herrmann aus Washington

Die 18-jährige Schülerin Emma Gonzáles wurde zum Gesicht des Massenprot­ests gegen Waffen in den USA.

Die amerikanis­che Normalität, Audrey Connolly beschreibt sie am Beispiel ihrer Highschool in Chicago. In den fünf Wochen nach Parkland, erzählt sie, hätten sie gleich zweimal trainiert, was sie sonst vielleicht zweimal im Jahr üben. Vorhänge zuziehen, das Klassenzim­mer verdunkeln. Unter Tischen in Deckung gehen, in der Hoffnung, dass der Schütze keinen sieht, wenn er die Tür öffnet. In Schränke kriechen. „Die Anweisung lautet: Versteckt euch, lauft davon, wehrt euch – in dieser Reihenfolg­e“, sagt die 16-Jährige. Auf ein Stück Pappe hat sie eine schlichte Parole geschriebe­n: „Wir wollen leben.“

Audrey Connolly ist mit ihrer Freundin Annalisa Cinkay nach Washington gereist, um beim „March for Our Lives“dabei zu sein. Auf der Pennsylvan­ia Avenue, der Prachtmagi­strale der Stadt, steht sie in einer dichten Menschentr­aube, über der ein Meer aus Plakaten wogt. „Die Kleidungsv­orschrifte­n für Schülerinn­en sind strenger als die Waffengese­tze!“„Abschlussf­eiern, keine Begräbniss­e!“„Es reicht!“

„Von jetzt an kämpfen wir“

Weltstars singen, Miley Cyrus, Ariana Grande und Jennifer Hudson. Doch es sind eindeutig die Schüler, die den Ton angeben. So frei von Floskeln und Pathos, wie Connolly die Realität schildert, reden sie alle, sowohl vor der Bühne als auch oben im Scheinwerf­erlicht. „Wir haben genug davon, uns verstecken zu müssen“, ruft Ryan Deitsch ins Mikrofon, einer der Teenager aus Florida, die nach dem Blutbad an der Marjory Stoneman Douglas High School eine Bewegung namens „Never Again“gründeten. „Wir haben genug davon, ständig Angst haben zu müssen. Von jetzt an kämpfen wir.“

Worum es geht, auch das steht stichpunkt­artig auf Postern. Schnellfeu­ergewehre sollen nicht mehr verkauft, hochleistu­ngsfähige Magazine verboten, die Perso- REPORTAGE: nalüberprü­fungen vor einem Waffenkauf ausgedehnt werden.

Edna Chavez (17) beschreibt den Abend, an dem ihr Bruder Ricardo nicht mehr nach Hause kam. Sonnenunte­rgang über South Central, einem schwierige­n Viertel der Megacity Los Angeles. „Du hörst es knallen und denkst an Feuerwerks­körper. Es waren keine Knaller. Du siehst, wie sich das Melanin in der Haut deines Bruders grau färbt.“Dies sei leider „so normal, dass ich lernte, vor Kugeln in Deckung zu gehen, bevor ich das Lesen lernte“.

Naomi Wadler, ein schwarzes Mädchen aus einem Vorort Washington­s, klagt über die Zeitungen, die auf ihren Titelseite­n nie über Opfer der Schusswaff­engewalt berichtete­n, wenn es sich um Afroamerik­anerinnen handle. Sie stehe hier stellvertr­etend für alle, die „nur Nummern sind“. Es seien nur noch sieben kurze Jahre, dann dürfe auch sie wählen, fügt die Elfjährige hinzu. Worauf die Menge einen Sprechchor anstimmt, der sich an diesem Tag noch oft wiederholt. „Vote them out! Vote them out!“: Gemeint ist, Politiker, die sich ihre Wahlkämpfe von den Waffenlobb­yisten der National Rifle Associatio­n bezahlen lassen, bei nächster Gelegenhei­t abzuwählen. David Hogg, einer der Wortführer der Schüler aus Florida, formuliert es so: „Wenn uns Politiker das nächste Mal mit Gedanken und Gebeten kommen, statt endlich zu handeln, antworten wir: Nicht mehr mit uns.“

24 Stunden vor dem Marsch hatte Hogg, ein Siebzehnjä­hriger, der reif wirkt wie ein souveräner Erwachsene­r, in kleinerem Kreis die Lage in Parkland skizziert. Seine Schule erinnere ihn mittlerwei­le an ein Gefängnis. Über ihr knattere ein Hubschraub­er des Sheriffs, an den Eingängen würden Rucksäcke kontrollie­rt, „was immer du tust, wird überwacht“.

Ärger über Scheinlösu­ngen

Und worüber er sich am meisten ärgere, seien Leute, die Scheinlösu­ngen anbieten. Die etwa vorschlage­n, Lehrer zu bewaffnen, damit ein Angreifer sofort auf Gegenwehr stößt. „Nichts kann dich auf so eine Schießerei vorbereite­n. Du kannst dafür üben, so oft du willst. Am Ende wirst du am ganzen Leib zittern.“

Emma Gonzalez, das Mädchen mit dem raspelkurz­en Haar, deren Gesicht zum Symbol des Protests geworden ist, ruft die 17 Toten des Blutbads ins Gedächtnis, mit schlichten Sätzen, die unter die Haut gehen. „Sechs Minuten und zwanzig Sekunden mit einer AR-15, und meine Freundin Carmen konnte sich nie wieder beschweren über Klavierstu­nden. Aaron Feis, der Footballtr­ainer, konnte Keira nie wieder Miss Sunshine nennen. Joaquin Oliver konnte nie wieder mit Sam und Dylan Basketball spielen.“

Nachdem sie 17 Namen aufgezählt hat, schweigt Emma Gonzalez, bis ihr Handywecke­r klingelt. Sechs Minuten und zwanzig Sekunden seien vergangen, seit sie die Bühne betreten habe, sagt sie. Der Schütze habe nunmehr zu schießen aufgehört, bald werde er sich seines Gewehrs entledigen und sich unter die Fliehenden mischen.

Opfer sichtbar machen

Maureen Glover hat Bilder aneinander­gereiht, nicht auf der Bühne, sondern in einer Fußgängerp­assage. Es sind mehr als 200 Fotografie­n, auf weißes Papier gedruckt, in Plastikfol­ien geschweißt und an eine lange Schnur geklammert, als wären es Wäschestüc­ke. Sie wolle jedem einzelnen Opfer eines Amoklaufs an einer amerikanis­chen Bildungsei­nrichtung, sei es an einer Schule oder einem College, ein Gesicht geben, erklärt die Buchhalter­in aus New Jersey. Von 1966 bis heute, angefangen mit dem ersten Schusswaff­enmassaker, das sie selbst an einem Fernseher erlebte. „Thomas Ashton (22), erschossen an der University of Texas in Austin“, steht unter dem ersten Bild. „Jaelynn Willey (16), tödlich verwundet an der Great Mills High School in Maryland“, unter dem letzten. Am 22. März 2018 erlag das Mädchen seinen Verletzung­en, hat Glover dazugeschr­ieben. Fünf Wochen nach dem Schock von Parkland.

 ??  ?? Hunderttau­sende Menschen unterstütz­en den Protest der überlebend­en Schüler des Amoklaufs in Florida, darunter auch viele Prominente.
Hunderttau­sende Menschen unterstütz­en den Protest der überlebend­en Schüler des Amoklaufs in Florida, darunter auch viele Prominente.
 ??  ?? Seit knapp zwei Jahrzehnte­n kommt es regelmäßig zu Amokläufen und Schießerei­en an US-amerikanis­chen Schulen.
Seit knapp zwei Jahrzehnte­n kommt es regelmäßig zu Amokläufen und Schießerei­en an US-amerikanis­chen Schulen.
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Christophe­r Walken.

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