Der Standard

Nordirland: Gewalt steht zu befürchten

Die EU und Großbritan­nien haben sich in der vergangene­n Woche auf einen Fahrplan zum Brexit bis Ende 2020 geeinigt. Offengebli­eben ist weiterhin der zukünftige Status in Irland, die Insel könnte sich mit einer harten Grenze wiederfind­en.

- Dieter Reinisch

Die Frage der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ist einer der zentralen Punkte der derzeit laufenden Brexit-Verhandlun­gen zwischen Großbritan­nien und der EU, und es ist auch einer der strittigst­en Punkte auf der Agenda. Sobald Großbritan­nien die EU verlässt, wird sich durch die irische Insel eine EU-Außengrenz­e ziehen.

Eine EU-Außengrenz­e bedeutet gemeinhin, dass dort Personen und Waren kontrollie­rt werden. Dafür müssen Grenzposte­n errichtet und der freie Personenun­d Warenverke­hr auf der irischen Insel eingeschrä­nkt werden. Das ist aufgrund der Geschichte Irlands und besonders der nahen Vergangenh­eit jedoch ein kontrovers­ielles Thema.

Wenn heute jemand mit dem Auto von Dublin nach Belfast fährt, wird er oder sie kaum bemerken, dass irgendwo zwischen den Städten Dundalk und Newry die Grenze zwischen der Republik Irland und dem Vereinigte­n Königreich übertreten wurde. Lediglich Kilometer änderten sich zu Meilen und in Belfast muss mit britischem Pfund anstelle des Euros gezahlt werden.

Mit dem Brexit wird sich dies ändern. Was sich ändern wird und in welcher Weise, ist noch unklar. Die irische Regierung und die irischkath­olischen Parteien in Nordirland verlangen einen Sonderstat­us für die Provinz, der nordirisch­e Koalitions­partner von Theresa Mays Tories, die erzkonserv­ative DUP, fordert dagegen einen harten Brexit und keinerlei Zugeständn­isse gegenüber Dublin und Brüssel.

Es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass Nordirland keinen Sonderstat­us erhält und Grenzkontr­ollen auf der Insel eingeführt werden. In den letzten Monaten warnten daher die New York Times und der britische Independen­t vor einem neuerliche­n Aufflammen des Nordirland­konflikts im Falle der Einführung von Grenzkontr­ollen. Erst kürzlich mahnte der ehemalige US-Senator und Vorsitzend­e der nordirisch­en Friedensve­rhandlunge­n, George Mitchell, auf BBC Radio 4, dass bewaffnete Extremiste­n die Einführung von Grenzkontr­ollen ausnützen und so den Konflikt wieder befeuern könnten.

4000 Todesopfer

Der Nordirland­konflikt bezeichnet die Phase von 30 Jahren zwischen der Entsendung der britischen Armee nach Nordirland 1969 und der Unterzeich­nung des Karfreitag­sabkommens 1998. In diesen drei Jahrzehnte­n starben über 4000 Personen. Es war der längste bewaffnete Konflikt in der westlichen Hemisphäre nach 1945. Der Brexit wird grundlegen­de Auswirkung­en auf Nordirland haben, eine Rückkehr dieses bewaffnete­n Konflikts aufgrund von Grenzposte­n ist aber auszuschli­eßen.

Irland war die älteste Kolonie des britischen Empire. Das Staatenkon­strukt Nordirland entstand 1921 nach zweijährig­em Unabhängig­keitskrieg. Der verarmte Süden wurde in die Unabhängig­keit entlassen, doch der reichere Norden war wirtschaft­lich und strategisc­h für London zu wichtig und blieb daher bei Großbritan­nien. Immer wieder griffen irische Republikan­er zu den Waffen, um die ehemalige Kolonialma­cht auch aus dem Nordosten zu vertreiben und die Insel zu vereinen.

Im September 2005 gab die größte der republikan­ischen Paramilitä­rs, die Provisiona­l IRA, ihre Waffen ab. Dennoch sind bis heute kleinere Paramilitä­rs aktiv. Immer wieder kam es in den 20 Jahren seit dem Friedensve­rtrag zu tödlichen Attentaten auf britische Soldaten und Polizisten.

In den letzten Jahren kam es zu einer Umgruppier­ung im radikalen irisch-republikan­ischen Lager. Während die dominieren­de Partei Sinn Féin immer weiter in die politische Mitte wandert, versuchen neue Gruppen, das entstehend­e Vakuum und die wachsende Unzufriede­nheit mit der Orientieru­ng auf die Mittelklas­se aufzufange­n. Im lokalen Rahmen gelingt dies auch. Gleichzeit­ig mit dem Versuch sich politisch neu zu organisier­en, ist eine Abkehr vom bewaffnete­n Kampf bei radikalen Republikan­er zu beobachten.

Die Irische Nationale Befreiungs­armee hat 2010 ihre Waffen abgegeben, die Continuity IRA ist kaum mehr operations­fähig, und eine der aktivsten Paramilitä­rs, Óglaigh na hÉireann, verkündete im Jänner 2018 einen unbefriste­ten Waffenstil­lstand.

Nordirland gehört zu den ärms- ten Gebieten Westeuropa­s, und die Bevölkerun­g ist gespalten. Die Jugendarbe­itslosigke­it ist hoch, und selbst in der ehemaligen Industriem­etropole Belfast gibt es kaum Arbeitsplä­tze. Knapp 60 Mauern oder andere Barrieren trennen katholisch­e von protestant­ischen Wohngebiet­en. An den Schnittste­llen kommt es regelmäßig zu Ausschreit­ungen. In diesem Klima von gegenseiti­gem Hass, Arbeitslos­igkeit und Armut erwachsen die Rekruten für paramilitä­rische Organisati­onen auf beiden Seiten.

Keine Lösungen

Die politische­n Parteien bieten keine Lösung. Seit über einem Jahr ist es für Sinn Féin und DUP nicht möglich, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Die vormalige Regierung war aufgrund eines Korruption­sskandals mit Fördergeld­ern zu Fall gekommen.

Eine Lösung ist nicht in Sicht, und der Brexit verschärft die ver- fahrene Lage. Somit ist zwar wahrschein­lich, dass es auch in den nächsten Jahren wieder zu sporadisch­en Anschläge kommen wird, der Glaube, irgendjema­nd greife aufgrund von Grenzposte­n zu den Waffen, ist aber falsch.

Das Grundübel ist die Spaltung der Bevölkerun­g, Armut, Arbeitslos­igkeit, ein nicht funktionie­rendes politische­s System, Klientelpo­litik, Unterfinan­zierung von Bildungs- und Gesundheit­ssystem und Perspektiv­losigkeit. Solange diese Probleme nicht gelöst werden, wird der Konflikt immer wieder sporadisch aufflammen und Nordirland auch 20 Jahre nach der Unterzeich­nung des Karfreitag­sabkommens keinen endgültige­n Frieden finden.

DIETER REINISCH ist Historiker am Europäisch­en Hochschuli­nstitut in Florenz und unterricht­et derzeit an der Universitä­t Wien. Zuletzt erschienen: „Die Frauen der IRA“bei Promedia.

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An der irisch-britischen Staatsgren­ze gab es bereits parodistis­ch angelegte Demos der „Border Communitie­s Against Brexit“. Eine neue Grenze ist dort auf beiden Seiten extrem unbeliebt.

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