Paris bestürzt über Mord an Holocaust-Überlebender
85-Jährige wurde Opfer eines mutmaßlich antisemitisch motivierten Hassverbrechens
Mireille Knoll war vom Leben alles andere als verwöhnt. Die 85-jährige Französin lebte mittellos in einer Sozialwohnung im elften Pariser Arrondissement und litt an Parkinson. Als jüdisches Kind hatte sie im Zweiten Weltkrieg die Verfolgung durch die deutschen Okkupanten miterlebt; der berüchtigten Razzia des Wintervelodroms 1942, nach dem über 13.000 Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, entging sie mit ihrer Mutter nur knapp.
Am vergangenen Freitag wurde Knolls Leiche mit elf Messerstichen auf dem Bett liegend vorgefunden – die Wohnung stand in Flammen. Der mutmaßliche Täter wurde schnell gefasst: Ein 29-jähriger Maghrebiner, der seit seiner Kindheit im gleichen Wohnblock lebte und von der im Viertel als herzensgut bekannten Knoll „wie ein Sohn“(so ein Familienangehöriger) behandelt wurde. Wegen sexueller Gewalt an der zwölfjährigen Tochter von Knolls Pflegerin war der Mann kürzlich in Haft. Ein 22-jähriger Obdachloser wurde inzwischen als möglicher Komplize festgenommen.
Der Fall erinnert an die jüdische Seniorin Sarah Halimi (65). Sie war vor einem Jahr in Paris auch von einem muslimischen Nachbarn misshandelt und vom Balkon in den Tod gestürzt worden. Er habe ihr den „Teufel“ausgetrieben, sagte der westafrikanische Täter, der seither in Haft sitzt. Die Staatsanwaltschaft ging zuerst von einem psychiatrischen oder nachbarschaftlichen Konflikt aus; erst nach Protest der jüdischen Gemeinschaft wurde ein antisemitisches Tatmotiv erwogen.
Der Antisemitismus hat in Frankreich sein Gesicht gewandelt: Er entstammt nicht mehr dem bekannten rechtsextremistischen Milieu, sondern grassiert vor allem unter muslimischen Jugendlichen. In einzelnen BanlieueSchulen weigern sich heute Zehnoder Zwölfjährige, über den Holo- caust zu sprechen. Und wer eine Kippa trägt, riskiert Beschimpfungen und Schläge.
Viele Juden ziehen deshalb, wenn sie es sich leisten können, in die besseren Viertel im Westen von Paris. Rund 40.000 der rund 500.000 französischen Juden sind im vergangenen Jahrzehnt nach Israel ausgewandert.
Spuren des Nahostkonflikts
Der Nahostkonflikt hat bis in die Banlieue-Siedlungen Spuren hinterlassen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA trugen viele Einwandererkids stolz T-Shirts mit Bin-Laden-Konterfei. Solche Aktionen sind zwar heute durch neue Gesetze gegen die „Verherrlichung des Terrorismus“verboten; der Judenhass hat in den Einwandererghettos aber nur noch zugenommen.
Die Reaktion auf ihre Diskriminierung bei der Job- oder Wohnungssuche richtet sich bei vielen muslimischen Jugendlichen nicht mehr nur gegen Symbole des französischen Staates, sondern zunehmend auch gegen die Juden. Das sei „das Werk der Islamisten“, wiederholte der der israelischen Rechten nahestehende Abgeordnete Meyer Habib nach der Ermordung von Mireille Knoll.
Wie viele Politiker äußerte auch Präsident Emmanuel Macron seine Bestürzung über das „scheußliche Verbrechen“. Er verspricht „totale Entschlossenheit im Kampf gegen den Antisemitismus“. Vor wenigen Tagen erst hat sein Premier Edouard Philippe ein neues Gesetz vorgestellt, das judenfeindliche Hasstiraden im Internet explizit ins Visier nimmt.
Antisemitische Delikte wie etwa Attacken auf Synagogen haben in Frankreich in den vergangenen drei Jahren zwar insgesamt abgenommen, doch physische Gewaltakte nehmen zu – und offensichtlich gerade auch gegen ältere Bürger. Die jüdische Gemeinschaft hat deshalb für Mittwoch zu einem Protestmarsch in Paris aufgerufen.