Der Standard

Paris bestürzt über Mord an Holocaust-Überlebend­er

85-Jährige wurde Opfer eines mutmaßlich antisemiti­sch motivierte­n Hassverbre­chens

- Stefan Brändle aus Paris

Mireille Knoll war vom Leben alles andere als verwöhnt. Die 85-jährige Französin lebte mittellos in einer Sozialwohn­ung im elften Pariser Arrondisse­ment und litt an Parkinson. Als jüdisches Kind hatte sie im Zweiten Weltkrieg die Verfolgung durch die deutschen Okkupanten miterlebt; der berüchtigt­en Razzia des Wintervelo­droms 1942, nach dem über 13.000 Juden in die Vernichtun­gslager deportiert wurden, entging sie mit ihrer Mutter nur knapp.

Am vergangene­n Freitag wurde Knolls Leiche mit elf Messerstic­hen auf dem Bett liegend vorgefunde­n – die Wohnung stand in Flammen. Der mutmaßlich­e Täter wurde schnell gefasst: Ein 29-jähriger Maghrebine­r, der seit seiner Kindheit im gleichen Wohnblock lebte und von der im Viertel als herzensgut bekannten Knoll „wie ein Sohn“(so ein Familienan­gehöriger) behandelt wurde. Wegen sexueller Gewalt an der zwölfjähri­gen Tochter von Knolls Pflegerin war der Mann kürzlich in Haft. Ein 22-jähriger Obdachlose­r wurde inzwischen als möglicher Komplize festgenomm­en.

Der Fall erinnert an die jüdische Seniorin Sarah Halimi (65). Sie war vor einem Jahr in Paris auch von einem muslimisch­en Nachbarn misshandel­t und vom Balkon in den Tod gestürzt worden. Er habe ihr den „Teufel“ausgetrieb­en, sagte der westafrika­nische Täter, der seither in Haft sitzt. Die Staatsanwa­ltschaft ging zuerst von einem psychiatri­schen oder nachbarsch­aftlichen Konflikt aus; erst nach Protest der jüdischen Gemeinscha­ft wurde ein antisemiti­sches Tatmotiv erwogen.

Der Antisemiti­smus hat in Frankreich sein Gesicht gewandelt: Er entstammt nicht mehr dem bekannten rechtsextr­emistische­n Milieu, sondern grassiert vor allem unter muslimisch­en Jugendlich­en. In einzelnen BanlieueSc­hulen weigern sich heute Zehnoder Zwölfjähri­ge, über den Holo- caust zu sprechen. Und wer eine Kippa trägt, riskiert Beschimpfu­ngen und Schläge.

Viele Juden ziehen deshalb, wenn sie es sich leisten können, in die besseren Viertel im Westen von Paris. Rund 40.000 der rund 500.000 französisc­hen Juden sind im vergangene­n Jahrzehnt nach Israel ausgewande­rt.

Spuren des Nahostkonf­likts

Der Nahostkonf­likt hat bis in die Banlieue-Siedlungen Spuren hinterlass­en. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA trugen viele Einwandere­rkids stolz T-Shirts mit Bin-Laden-Konterfei. Solche Aktionen sind zwar heute durch neue Gesetze gegen die „Verherrlic­hung des Terrorismu­s“verboten; der Judenhass hat in den Einwandere­rghettos aber nur noch zugenommen.

Die Reaktion auf ihre Diskrimini­erung bei der Job- oder Wohnungssu­che richtet sich bei vielen muslimisch­en Jugendlich­en nicht mehr nur gegen Symbole des französisc­hen Staates, sondern zunehmend auch gegen die Juden. Das sei „das Werk der Islamisten“, wiederholt­e der der israelisch­en Rechten nahestehen­de Abgeordnet­e Meyer Habib nach der Ermordung von Mireille Knoll.

Wie viele Politiker äußerte auch Präsident Emmanuel Macron seine Bestürzung über das „scheußlich­e Verbrechen“. Er verspricht „totale Entschloss­enheit im Kampf gegen den Antisemiti­smus“. Vor wenigen Tagen erst hat sein Premier Edouard Philippe ein neues Gesetz vorgestell­t, das judenfeind­liche Hasstirade­n im Internet explizit ins Visier nimmt.

Antisemiti­sche Delikte wie etwa Attacken auf Synagogen haben in Frankreich in den vergangene­n drei Jahren zwar insgesamt abgenommen, doch physische Gewaltakte nehmen zu – und offensicht­lich gerade auch gegen ältere Bürger. Die jüdische Gemeinscha­ft hat deshalb für Mittwoch zu einem Protestmar­sch in Paris aufgerufen.

 ?? Foto: AP / Christophe Ena ?? In ihrem Wohnblock war Mireille Knoll als herzensgut bekannt – die Überlebend­e des Holocaust wurde mit 85 zum Opfer eines wohl antisemiti­sch motivierte­n Mordes.
Foto: AP / Christophe Ena In ihrem Wohnblock war Mireille Knoll als herzensgut bekannt – die Überlebend­e des Holocaust wurde mit 85 zum Opfer eines wohl antisemiti­sch motivierte­n Mordes.

Newspapers in German

Newspapers from Austria