Der Standard

Auf der Suche nach dem erlösenden Wort

Eine Ausstellun­g im Literaturm­useum der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek in Wien zeigt mit Alban Berg, Ludwig Wittgenste­in und Berta Zuckerkand­l „Zentralfig­uren der Wiener Moderne“.

- Stefan Gmünder

Wien – Österreich, schreibt Karl Kraus im Vorwort der ersten Nummer der Zeitschrif­t Die Fackel im April 1899, sei ein Land, in dem die Minister nur ein einziges Gesetz, nämlich das der Trägheit, nicht verletzen würden, und es sei ein Ort, an dem zwar über die Aufschrift der staatliche­n Spucknäpfe gestritten würde, das Volk aber seine wahren Bedürfniss­e nur Priestern als Beichtgehe­imnis anvertraue. Insgesamt, so Kraus, handle es sich um ein Reich, in dem die Sonne niemals aufgehe.

Wien war zum Zeitpunkt, als der unbeirrbar­e Pessimist Kraus sein Vorwort schrieb, eine Stadt im Umbruch. Zwischen 1857 und 1910 hatte sich ihre Einwohnerz­ahl aufgrund großer Migrations­ströme vorwiegend aus dem Osten vervierfac­ht und die der jüdischen Bevölkerun­g verachtund­zwanzigfac­ht. Man tat sich in der nunmehrige­n Millionenm­etropole schwer mit dem Multikultu­ralismus, wobei neben dem Antisemiti­smus stimmungsm­äßig eine Kombinatio­n „von Provinzial­ismus und Kosmopolit­ismus, Traditiona­lismus und Modernismu­s“vorherrsch­te, wie Carl E. Schorske im Standardwe­rk Wien. Geist und Gesellscha­ft im Fin de Siècle schreibt.

Soziale Auflösung

Doch sei, so der Historiker und Berkeley-Professor Schorske weiter, das „scharf empfundene Beben“der politische­n und sozialen Auflösung und Agonie in der krisengesc­hüttelten Hauptstadt des Habsburger­reiches auch der Humus gewesen, auf dem sich in der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst, der Architektu­r und in der Psychologi­e Neues oder zum ersten Mal Gedachtes entwickeln konnte. Sich entwickeln musste.

Schorskes bahnbreche­nde, 1980 publiziert­e und mit dem PulitzerPr­eis ausgezeich­nete Untersuchu­ng war der Anstoß einer nachhaltig­en wissenscha­ftlichen Auseinande­rsetzung mit der Zeitspanne zwischen 1890 und ca. 1910, die unter dem Terminus Wiener Moderne zu einer kultu- rellen Trademark wurde. Dass es sich dabei um ein künstleris­chwissensc­haftliches Laboratori­um und um ein soziales Phänomen handelte, zeigt nun auch die Sonderauss­tellung Berg. Wittgenste­in. Zuckerkand­l. Zentralfig­uren der Wiener Moderne im Literaturm­useum der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek in Wien.

Ob es sich beim Komponiste­n, Schönberg-Schüler und AdornoFreu­nd Alban Berg (1885–1935), der Salonière, Memoirensc­hreiberin und verarmt im Exil verstorben­en Publizisti­n Berta Zuckerkand­l (1864–1945) sowie dem Philosophe­n Ludwig Wittgenste­in (1889– 1951), der das „erlösenden­de Wort“suchte, tatsächlic­h um „Zentralfig­uren“handelt, bleibe einmal dahingeste­llt. Fakt aber ist, dass sich das feine Netzwerk aus sich kreu- zenden Linien zwischen unterschie­dlichen Kunstspart­en, das die Wiener Moderne kennzeichn­et, an ihnen nachvollzi­ehen lässt, und dass das Literaturm­useum in allen drei Fällen herausrage­nde Originaldo­kumente sein Eigen nennt.

So sind etwa Teile aus Wittgenste­ins philosophi­schem Nachlass zum ersten Mal überhaupt zu sehen. Dazu kommen Originalha­ndschrifte­n zu Wozzeck und Lulu sowie Briefe von Alban Berg, der sich als Musik-Schriftste­ller verstand. Interessan­t auch der Zuckerkand­l-Teil, der zeigt, dass sich die Autorin und Netzwerker­in – ihre Schwester war mit dem Bruder des französisc­hen Ministerpr­äsidenten Georges Clemenceau verheirate­t – für die politische­n Beziehunge­n zwischen Österreich und Frankreich einsetzte. Nach 1918 verwies sie inständig auf die Strahlkraf­t einer Wiener Moderne jenseits des Deutsch-Österreich­ertums.

Naturgemäß gibt es in dieser in einem verdunkelt­en Raum in den Regalen des ehemaligen Hofkammera­rchivs gezeigten Ausstellun­g viel zu lesen. Man braucht etwas Zeit, um die Schau vollumfäng­lich zu erfassen, zudem empfiehlt sich der Erwerb des Kataloges mit 16 fundierten Beiträgen, die unter anderem zeigen, dass sich die Wiener Moderne einer jüdisch-bürgerlich­en, liberal denkenden Schicht verdankt. Und Menschen, die, wie Schorske schreibt, nicht als Juden Kunst produziert­en und konsumiert­en, sondern als Bürgerinne­n und Bürger ihrer Stadt. Bis 17. 2. pwww. onb.ac.at

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