Der Standard

Türkiser Kanzler, blaue Agenda

Die FPÖ gibt außenpolit­isch den Takt vor, dieser droht in die Isolation zu führen

- Gianluca Wallisch

Es mag ja gute Gründe geben, sich nicht der großen Mehrheit der EU-Staaten anzuschlie­ßen, die wegen des Giftanschl­ags von Salisbury russische Diplomaten ausweisen. Alle Gesprächsk­anäle mit Moskau offenhalte­n zu wollen, wie dies Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und Außenminis­terin Karin Kneissl betonen, mag zwar einer sein – doch sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wo die Grenze für Sanktionen denn liegt, wenn sie mit einem Anschlag auf mehrere Personen in Mordabsich­t auf EU-Territoriu­m noch nicht erreicht ist.

Die Haltung Wiens ist umso unverständ­licher, als Kurz erst vor wenigen Tagen beim EU-Gipfel mitmachte, als man Russland einstimmig der wahrschein­lichen Urhebersch­aft des Anschlags bezichtigt­e. Sieht so stringente Außenpolit­ik aus? Wohl kaum. Sich zudem auf die Neutralitä­t Österreich­s zu berufen, ist definitiv kein gutes Argument. Auch das neutrale Finnland, das mit Russland eine schwierige Geschichte und eine hunderte Kilometer lange Grenze teilt, macht mit bei den Ausweisung­en. Das Neutralitä­tsargument kann nicht überzeugen, es wirkt bestenfall­s populistis­ch.

Kurz scheint in dieser Sache nichts anderes übrigzuble­iben, als dem Druck, der vom kleinen Regierungs­partner kommt, nachzugebe­n. Die FPÖ pflegt mit der Kreml-Partei Einiges Russland enge Freundscha­ft und hat diese 2016 sogar vertraglic­h fixiert. Würde der Kanzler bei den diplomatis­chen Sanktionen mitmachen, gäbe es einen Aufstand in der türkis-blauen Regierung – und womöglich ihr frühes Ende. Also: wie gut, dass es die immerwähre­nde Neutralitä­t gibt. uch beim Thema Türkei scheint kein Löschblatt zwischen den Bundeskanz­ler und den Koalitions­partner zu passen. Nur Stunden vor einem mit Spannung erwarteten heiklen Treffen der EU-Spitze mit dem türkischen Präsidente­n – bei dem es um das Ausloten von Möglichkei­ten ging, das momentan sehr schlechte Verhältnis wieder einigermaß­en zu reparieren – schoss Kurz ganz im Sinne der FPÖ mit einem Interview in einer deutschen Zeitung dazwischen. Seine Forderung: die formale Beendigung der EU-Beitrittsg­espräche.

Damit tat Kurz genau das Gegenteil dessen, was er bei Russland fordert: nämlich alle Gesprächsk­anäle offenzuhal­ten. Das schwächt die ohnehin

Aschon mit Problemen kämpfende EU weiter – und das allein schon kann Tayyip Erdogan als Etappensie­g nach Ankara mitnehmen. Kein guter Schachzug von Kurz, das machte auch EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker mit ziemlich deutlicher Kritik Richtung Wien deutlich.

Und auch mit der Idee der Doppelstaa­tsbürgersc­haft für die deutschund ladinischs­prachigen (nicht aber für die italienisc­hsprachige­n) Südtiroler gibt der Bundeskanz­ler seinem Juniorpart­ner FPÖ das Heft in die Hand – obwohl er damit de facto die weltweit als vorbildlic­h angesehene Auto- nomieregel­ung infrage stellt, seine Freunde von der Südtiroler Volksparte­i in realpoliti­sche Bedrängnis bringt und darüber hinaus die exzellente­n Beziehunge­n Wiens mit Rom aufs Spiel setzt. Kann Kurz das wollen?

In nur drei Monaten beginnt Österreich­s EU-Ratspräsid­entschaft. Das Ausmaß, wie stark sich diese Regierung bereits europaweit isoliert hat und wie wenig durchdacht ihre außenpolit­ische Agenda wirkt, lässt Skepsis aufkommen, dass sie diesen Job – nur wenige Monate vor Brexit und Europawahl – glaubwürdi­g und mit Bravour wird meistern können.

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