Der Standard

Instrument­alisiertes Urteil

Immer dann, wenn von Migranten und Kriminalit­ät die Rede ist, gehen die Wogen hoch. Politische Parteien machen sich das zunutze. Auch im Vergewalti­gungsproze­ss am Landesgeri­cht St. Pölten, der am Dienstag mit Freisprüch­en endete, war das so. Die Opfer geh

- Maria Sterkl

Der Boulevard und politische Parteien machen sich den Freispruch im Vergewalti­gungsproze­ss im Landesgeri­cht St. Pölten zunutze. Warum ist das so?

Wenn Politiker etwas zu präsentier­en haben, tun sie das üblicherwe­ise so laut und öffentlich wie möglich. FPÖ-Chef und Vizekanzle­r HeinzChris­tian Strache nutzt dafür gern seinen Facebook-Kanal. So auch am Mittwoch, als er seine Pressekonf­erenz mit der Sozialmini­sterin bewarb. Doch ein Thema gab es, das ihm noch wichtiger war als sein eigener Auftritt: Den prominente­sten Platz auf seiner Facebook-Seite widmete er einem

Krone- Bericht zum Vergewalti­gungsurtei­l in St. Pölten (siehe Artikel links). Der Freispruch der zwei angeklagte­n Asylwerber sei „unerträgli­ch und skandalös“, so Strache in seinem Kommentar zum nicht rechtskräf­tigen Urteil. Niederöste­rreichs FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl legte nach: Österreich­er seien offenbar „vor der Justiz benachteil­igt gegenüber Zuwanderer­n“.

Politik schürt Empörung

Für Opfer sexueller Gewalt macht es keinen Unterschie­d, ob der Täter ein Migrant ist oder nicht – sie haben mit den Folgen oft ein Leben lang zu kämpfen. Für Politiker mancher Parteien sehr wohl. Mitte Mai 2016, mehr als zehn Monate vor dem Freispruch im Tullner Fall, verkündete der Tullner Bürgermeis­ter Peter Eisenschen­k (ÖVP): „Angesichts dessen, was diese Verbrecher dem Mädchen angetan haben, ist die volle Härte des Gesetzes gefordert.“Er verhängte einen Aufnahmest­opp für Asylwerber in Tulln. Es gebe „null Toleranz gegenüber straffälli­gen Asylwerber­n“, so Eisenschen­k. Unschuldsv­ermutung hin oder her – für den Lokalpolit­iker waren die Verdächtig­en bereits vorverurte­ilt.

Die FPÖ versuchte, den Bürgermeis­ter noch zu übertrumpf­en – und forderte, alle Flüchtling­sheime der Stadt sollten ab sofort streng bewacht oder überhaupt zugesperrt werden. Ganz so, als gäbe es nicht nur zwei Tatverdäch­tige, sondern als wären alle Flüchtling­e, egal ob Männer, Frauen oder Kinder, potenziell­e Gewalttäte­r.

Auch im vergangene­n Nationalra­tswahlkamp­f waren Sexualstra­ftaten ein Thema. ÖVP und FPÖ versuchten mit der Ankündigun­g höherer Strafen für sexuelle Gewalt, um die Zustimmung der Wähler zu buhlen. Diese Strafrecht­sreform soll nun kommen. Hätte sie aber im Tullner Fall zu einem anderen Ergebnis geführt – etwa zu einer gerichtlic­hen Verurteilu­ng? Nein. Denn ohne bewiesene Schuld keine Strafe – eine Schuld war den beiden Angeklagte­n aus Sicht des Schöffense­nats aber eben nicht nachweisba­r.

Der aggressive­n Polemik rund ums Thema Kriminalit­ät und Migration können sich auch Gerichte nicht entziehen, glaubt Arno Pilgram vom Institut für Rechts- und Kriminalso­ziologie (IRKS). Auch Richter sind Menschen, ihre Namen im Netz auffindbar, oft würden sie unter Druck gesetzt, beschimpft, auch bedroht. Diesem Druck standzuhal­ten sei nicht immer leicht, so Pilgram: „Nicht jeder ist so furchtlos.“Insofern überrasche das St. Pöltner Urteil. Zudem finden öffentlich­e Einstellun­gsmuster auch in der Urteilspra­xis ihr Echo. In der Ära Schwarz-Blau I etwa sei der konstante Rückgang der gerichtlic­hen Verurteilu­ngen spürbar gebremst worden. Dass sich veränderte Werthaltun­gen in der Gerichtspr­axis widerspieg­eln, sei nicht unbedingt schlecht, so Pilgram: Einer von der Gesellscha­ft völlig abgehobene­n Justiz vertraue man nicht.

Die geplanten höheren Strafen für Sexualgewa­lt könnten für die Opfer sogar negative Folgen haben, meint Sexualstra­frechtsexp­ertin Birgitt Haller vom Institut für Konfliktfo­rschung: Vor allem dann, wenn das Opfer den Täter kennt, würden drakonisch­e Strafen es vor einer Anzeige eher zurückschr­ecken lassen als weniger hohe Sanktionen. Es gäbe dann womöglich noch weniger verurteilt­e Taten als heute.

Dass die Justiz bei Sexualgewa­lt zu milde vorgeht, ist ein oft geäußerter Vorwurf. Aus Sicht der Opfer sei eine harte Bestrafung des Täters nicht vorrangig, sagt Haller. Studien hätten gezeigt, dass „Opfer kein Rachebedür­fnis haben“, sondern sich vor allem eine Anerkennun­g des Unrechts wünschen. Es mache also keinen großen Unterschie­d, ob die Strafe höher oder milder ausfalle. Ein Freispruch, obwohl der Angeklagte tatsächlic­h der Täter war, könne aber zu schweren traumatisc­hen Verletzung­en führen. Hier sei die psychosozi­ale Opferbegle­itung wichtig, die in solchen Prozessen angeboten wird. Eine gute Beratung vermittle, dass ein Freispruch nicht bedeute, dass man das Opfer der Lüge bezichtige.

Fest steht: Gericht und Staatsanwa­ltschaft in St. Pölten standen unter medialem Druck. Es wurde mit großem Aufwand ermittelt, 65 Männer wurden zum DNA-Test geladen – eine solche Reihenunte­rsuchung gibt es sonst nie. Das Gericht hat sich trotzdem, deswegen oder ungeachtet dieses Drucks für einen Freispruch entschiede­n – und wird nun von unterschie­dlichen Seiten dafür kritisiert. Kriminalso­ziologe Pilgram plädiert, nicht von Einzelurte­ilen auf Gesamttend­enzen in der Strafjusti­z zu schließen. Tendenzen könne man nur aus Statistike­n ablesen. Und die würden eines klar zeigen: dass man als Täter für ein und dieselbe Tat deutlich härter bestraft wird, wenn man ausländisc­her Herkunft ist.

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