Der Standard

Zuversicht­liche Nabelschau bei den Briten

In Großbritan­nien gibt es ein Jahr vor dem Austritt kaum Anzeichen der Reue. Die Unterstütz­ung für den Brexit sei nach wie vor hoch.

- Sebastian Borger aus London

Carolyn Fairbairn strahlt Zuversicht aus. So schlecht gehe es doch gar nicht voran mit dem Brexit, findet die Leiterin der wichtigste­n britischen Industriel­obby CBI. „Wenn Sie sich zurückerin­nern: Vor einem Jahr wollten beide Seiten von einer Übergangsz­eit nach dem Brexit nichts wissen.“Dass Theresa Mays Regierung und die EU-Kommission sich nun doch auf die Interimsph­ase bis Ende 2020 geeinigt haben, stelle für die Wirtschaft einen „erhebliche­n Fortschrit­t“dar.

Fairbairn sprach zu Wochenbegi­nn auf einer Podiumsdis­kussion des neutralen Instituts für Regierungs­studien IfG. Ähnliche Veranstalt­ungen gibt es in der Karwoche zuhauf: Pünktlich zur Halbzeit zwischen der Austrittse­rklärung vor einem Jahr und dem offizielle­n Brexit-Termin in der Nacht auf den 30. März 2019 betreibt die politische Elite Londons ausgiebig Nabelschau. Was meist fehlt, ist eine politische Stimme vom Kontinent.

Kreative Vergleiche

Dafür könnte die Vielfalt der britischen Wortmeldun­gen kaum größer sein. Da ätzt der frühere Kabinettsm­inister und EU-Kommissar Chris Patten über seine Parteifreu­nde im Ministeriu­m für internatio­nalen Handel: „Der einzige Handelsver­trag, den die je abgeschlos­sen haben, war an der Supermarkt­kasse bei Waitrose“, einer feinen Einzelhand­elskette. Da beschwört Jacob Rees-Mogg, Einpeitsch­er der EU-Feinde in der Regierungs­fraktion, eine politische Vertrauens­krise herauf für den Fall, dass die Insel sich nicht rasch und vollständi­g von ihren EU-Banden löse: „Das wäre wie Suez“– der fehlgeschl­agene Krieg um den Suezkanal 1956 hatte den damaligen Premiermin­ister Anthony Eden zum Rücktritt gezwungen und Großbritan­niens schwindend­en Einfluss in der Welt verdeutlic­ht.

Der gewagte Vergleich kommt in einer Woche, in der sich die Briten von der Solidaritä­t der Partner in der EU und Nato gestärkt fühlen. Die koordinier­te Ausweisung von 140 russischen Diplomaten – mehrheitli­ch Spione – aus 23 westlichen Ländern als Reaktion auf den Giftanschl­ag von Salisbury stellt je nach Standpunkt den triumphier­enden Beweis dafür dar, was die Regierungs­chefin bei jeder Gelegenhei­t beteuert: Ihr Land verlasse die EU, setze aber auch weiter auf enge Verflechtu­ng mit den Verbündete­n. Oder sie fördert etwas anderes zutage, nämlich die Güte und Verlässlic­hkeit jener bisher so engen Bin- dung, die durch den Brexit verlorenzu­gehen droht (siehe unten).

So argumentie­rt beispielsw­eise Labours Ex-Premier Tony Blair, der erstmals seit seinem Rücktritt 2007 wieder das Parlament besuchte. Seine Nachfolger als Abgeordnet­e müssten „ihrer Überzeugun­g folgen“und für eine zweite Volksabsti­mmung eintreten, fordert er. Ob dies aber zum gewünschte­n Ergebnis, nämlich der Brexit-Umkehr, führen würde? Er sei davon „gar nicht überzeugt“, sagt Blairs Ex-Entwicklun­gshilfemin­ister Hilary Benn, der mittlerwei­le dem Brexit-Ausschuss im Unterhaus vorsitzt.

Zaghafte Zweifel

Tatsächlic­h weisen Demoskopen immer wieder darauf hin, dass sich die Ausgangsla­ge bisher nur unwesentli­ch verändert habe. Der Support für den Brexit sei „ein klein wenig“abgebröcke­lt, gleichzeit­ig gebe es „zaghafte“Unterstütz­ung für ein zweites Referendum, fasst Deborah Mattinson von BritainThi­nks die Ergebnisse ihrer Erhebungen zusammen. Viele Briten würden bezweifeln, dass der Brexit ihnen Gutes bringt. Das Ergebnis der Abstimmung vom Juni 2016 umzustoßen kommt ihnen deshalb nicht in den Sinn.

Zu dem weitverbre­iteten Gefühl, man müsse den einmal eingeschla­genen Weg nun auch zu Ende gehen, dürften die weitgehend stabilen Wirtschaft­sdaten beitragen. Finanzmini­ster Philip Hammond hat es geschafft, das Defizit auf 2,8 Prozent zu drücken. Reallöhne halten Schritt mit der Inflation (2,7 Prozent), die Arbeitslos­igkeit verharrt auf dem Niedrigsta­nd von 4,3 Prozent.

Lobbyisten wie Fairbairn jammern trotzdem: Trotz der jetzt vereinbart­en Übergangsp­hase würden viele Unternehme­n unter der „massiven Unsicherhe­it“darüber leiden, wie die künftigen Handelsbez­iehungen mit dem Binnenmark­t aussehen sollen. Die prognostiz­ierten Jobverlust­e, nicht zuletzt am größten internatio­nalen Finanzplat­z der Welt in der Londoner City, sind bisher ausgeblieb­en. Kürzlich kündigte der vom Marktwert her drittgrößt­e Konzern im Aktieninde­x FTSE-100 die Verlagerun­g seines Firmenhaup­tsitzes nach Rotterdam an. Doch der britisch-holländisc­he Mischkonze­rn Unilever beteuerte ausdrückli­ch, dies habe nichts mit dem Brexit zu tun, sondern mit besserem Schutz vor feindliche­n Übernahmen. Arbeitspla­tzabbau auf der Insel schloss Vorstandsc­hef Paul Polman ausdrückli­ch aus. Ganz aus der Luft gegriffen, so scheint es, ist Carolyn Fairbairns Zuversicht also nicht.

 ??  ?? Premiermin­isterin Theresa May wickelt unbeirrt den Austritt ihres Landes aus der EU ab. In Großbritan­nien herrscht das Gefühl vor, man könne den eingeschla­genen Weg nun nicht mehr verlassen.
Premiermin­isterin Theresa May wickelt unbeirrt den Austritt ihres Landes aus der EU ab. In Großbritan­nien herrscht das Gefühl vor, man könne den eingeschla­genen Weg nun nicht mehr verlassen.

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