Der Standard

Spüren, wie es ohne Kopftuch ist

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Kinder haben in diesem Alter kein Bewusstsei­n dafür, warum eine bestimmte Religion bestimmte Kleidervor­schriften vorsieht“, ist Seyran Ateş überzeugt. Die Anwältin hat in Berlin eine liberale Moschee gegründet, in der etwa Frauen kein Kopftuch tragen müssen oder schwule Imame willkommen sind. Dafür und auch schon für ihre Publikatio­nen erhält Ateş zahlreiche Morddrohun­gen.

Mädchen würden sich so schon früh in die brave Mädchenrol­le begeben, sagt Ateş, sie würden sich weniger bewegen, damit ihr Kopftuch nicht verrutscht. Die Mädchen würden sich im Verhältnis zum anderen Geschlecht auch anders verhalten, sich sogar als minderwert­ig wahrnehmen, weil sie nicht offen sein dürften in ihrer Kleidung. Ateş: „Die Kinder bekommen ein Körpergefü­hl, das verschloss­en ist. Deshalb ist das Verbot richtig.“Wenn die Mädchen eine bestimmte Reife erlangt haben, die man mit der Religionsm­ündigkeit verbinden könne, könnten sie sich noch immer entscheide­n, bis dahin sollten sie aber „den Körper frei gespürt haben, und wie es ohne Kopftuch ist“.

Die Argumente gegen Verbote kann Ateş nicht nachvollzi­ehen. „In ihrer eigenen Kultur würden Atheistinn­en oder Christinne­n gegen alles kämpfen, was Mädchen in ihrer Freiheit beschränkt. Aber bei den Musliminne­n machen sie Abstriche und meinen, dass das Toleranz wäre, wenn man gegen ein Verbot wäre.“

Eine nichtrelig­iöse Parallele sei die Debatte um ein Hotpants-Verbot in einer Schule in Baden-Württember­g, die auch in Österreich Diskussion­en darüber auslöste, welche Kleidung in Schulen angemessen sei. Die Direktorin wollte „aufreizend­e Kleidung“nicht mehr dulden. „Ob es ein auffällige­r Lippenstif­t, Hotpants oder ein Kopftuch ist: Am Ende ist es immer eine Sexualisie­rung“, sagt Ateş. Hinter dem Kopftuch stehe einzig, dass der Mann sexuelle Gelüste hat, wenn er die Haare einer Frau sieht. Der Zweck sei also, dass man ihn nicht sexuell reize. „Wenn man das Kopftuch schon bei Kindergart­enkindern und in der Grundschul­e hat, bedeutet das zu akzeptiere­n, dass Kinder schon in dem Alter sexualisie­rt werden.“

„Wir müssen uns auf die Frauenbewe­gung in Europa rückbesinn­en“, meint Ateş. Die Frauen hätten viel geschafft. Jetzt gebe es aber einen doppelten Standard: Während Feministin­nen in ihrer eigenen Community für Gleichbere­chtigung und Selbstbest­immung kämpfen, würden sie archaische Praktiken und Sexismus in der muslimisch­en Kultur ausblenden. „Feministin­nen müssen sich Gedanken machen, wo sie vor hundert Jahren politisch gestanden wären – und wo sie heute stehen. Sie unterstütz­en die politische­n Gegner von damals.“

In der gesamten islamische­n Welt – von Marokko bis Indonesien – wird seit Jahrzehnte­n die Debatte „Kopftuch: ja oder nein“geführt wird, sagt Ateş. In Europa verbreite sich das Kopftuch immer mehr, und „deutsche wie auch österreich­ische Feministin­nen haben Angst, als rassistisc­h und fremdenfei­ndlich zu gelten, und lassen sich genau an dieser Stelle packen“.

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Die Anwältin und Feministin Seyran Ateş argumentie­rt für ein Kopftuchve­rbot.

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