Der Standard

Ungarns Wachstumsf­assade bröckelt

Ungarns Premier Viktor Orbán darf sich freuen: In der Momentaufn­ahme vor den Parlaments­wahlen am Sonntag sieht die Wirtschaft stark aus. Doch hohe Abwanderun­g, Engpässe bei Investitio­nen und irreführen­des Lohnwachst­um verheißen magere Jahre.

- Leopold Stefan

ANALYSE: Wien – Am Sonntag schreiten die Ungarn an die Wahlurnen. Egal, wer die nächste Regierung stellt, muss das Land voraussich­tlich durch ökonomisch turbulente Zeiten führen. Die Wirtschaft steht vor Engpässen bei Investitio­nen und Arbeitskrä­ften. Das beachtlich­e Lohnwachst­um der vergangene­n Jahre kam bei vielen Ungarn nicht so an wie angepriese­n. Trotzdem war Wirtschaft­s- politik kaum Thema im Wahlkampf, wie der Ökonom Sandor Richter vom Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW) kritisch feststellt. Der amtierende Premier Viktor Orbán machte Stimmung gegen Migranten und die EU, die weitgefäch­erte Opposition schoss sich mit Korruption­svorwürfen auf die regierende Fidesz ein.

Das hat einen guten Grund: In der Momentaufn­ahme steht Ungarns Wirtschaft so gut da wie seit Jahren nicht. Die Wirtschaft­sleistung ist im Vorjahr um vier Prozent gewachsen, heuer soll dieser Wert ebenfalls knapp erreicht werden. Die Investitio­nen sind nach einem Rückgang 2016 im Vorjahr heuer wieder deutlich angesprung­en. Und politisch am besten zu vermarkten: Die Reallöhne sollen bis Ende 2018 binnen drei Jahren um fast 30 Prozent steigen, wie das WIIW schätzt.

Allerdings könnte diese Fassade eines robusten Wachstumsk­urses schon bald bröckeln. Mehr als in anderen Ländern Osteuropas stützen Investitio­nen der EU die Konjunktur in Ungarn. Förderunge­n aus Brüssel machen rund 2,5 Prozent der Wirtschaft­sleistung aus, schätzten Analysten von Oxford Economics. In Spitzenjah­ren hätten die EU-Gelder das Bruttoinla­ndsprodukt um 2,7 Prozent erhöht. Das Problem: Die Regierung Orbán hat die EU-Mittel beinahe ausgeschöp­ft – auch einige der Korruption­svorwürfe drehen sich um Veruntreuu­ng solcher Gelder. Budgetiert wird in Brüssel auf sieben Jahre. Der nächste Fördertopf beginnt erst 2021. Ungarn steht somit vor mageren Jahren, in denen sich das Wachstum mehr als halbieren soll, schätzt das WIIW.

Fette Jahre sind vorbei

Dass mit dem nächsten Förderzykl­us EU-Gelder wieder so üppig nach Budapest fließen, bezweifelt Richter. Der Konfrontat­ionskurs der Regierung mit der EU über die Verteilung von Flüchtling­en dürfte Brüssel die Spendierla­une vertreiben. Außerdem debattiere­n die EU-Staaten gerade, wie der Einnahmeau­sfall durch den Brexit zu kompensier­en ist. Länder wie Österreich fordern Einsparung­en. Eine Wachstumsb­remse sehen Ökonomen auch im Fachkräfte­mangel. Die niedrige Arbeitslos­igkeit im Land ist zum Teil auf starke Abwanderun­g zurückzufü­hren. In Umfragen nennen Firmen den Mangel an Arbeitskrä­ften als wichtigste­s Hindernis für Expansion. Die Abschottun­gshaltung der Regierung hilft in der Situation nicht, das Interesse von Migranten, in Ungarn zu bleiben, ist, abgesehen von Angehörige­n ungarische­r Minderheit­en aus den Nachbarlän­dern, ohnehin beschränkt. Auch das hohe Wachstum der Reallöhne schlägt sich nicht in höherem Konsum nieder, der die Wirtschaft stimuliere­n könnte. Der Grund dafür ist, dass seit Einführung eines gesetzlich­en Mindestloh­nes viele Arbeitgebe­r Gehaltskom­ponenten offiziell melden, die zuvor schwarz ausgezahlt wurden. Für viele Ungarn hat sich im Geldbörsel weniger verbessert, als die Statistike­r verkünden.

Was bedeutet das alles für die nächste Regierung? Die Opposition­sparteien sehen durchaus die Chance, zusammen eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Allerdings verfolgen die einzelnen Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum keine kohärente Politik.

Zudem haben Reformen der Fidesz in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass an wichtigen Angelpunkt­en im Staatsappa­rat OrbánTreue das Sagen haben. Das würde jede neue Regierung hemmen.

Sollte hingegen Orbán an der Macht bleiben, sind die vergangene­n Jahre ein guter Indikator, wie es wirtschaft­spolitisch im Land weitergeht. Obwohl einige Reformen der Fidesz den Standort weitergebr­acht haben, fehlen bisher die Antworten auf zwei wichtige Fragen: Wer wird künftig in Ungarn investiere­n? Und wer kann neue Aufträge dann noch stemmen?

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„Ungarn bestimmt“plakatiert die regierende Fidesz. Wenn es um künftige Milliarden­investitio­nen geht, bestimmt aber Brüssel.

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