Der Standard

„Informatio­nen jederzeit löschen können“

Für den Philosophe­n Michael Sandel handeln wir nicht frei, wenn wir die Bedingunge­n von Online-Plattforme­n akzeptiere­n. Er fordert eine öffentlich­e Debatte über die moralische­n Grenzen der Datenverwe­rtung.

- INTERVIEW: Philip Pramer

STANDARD: In Ihrem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“kritisiere­n Sie, dass sich die Logik des Marktes auf viele Bereiche unseres Lebens ausbreitet. Sie kritisiere­n, dass Bildung, Gesundheit, Freundscha­ft oder menschlich­es Leben nicht wie andere Güter behandelt werden sollten. Trifft das auch auf Daten zu? Sandel: Ja, der Handel mit persönlich­en Daten wirft dieselben moralische­n Fragen auf, die ich in Bezug auf Bildung oder Gesundheit in meinem Buch diskutiere. Ich denke, dass wir eine öffentlich­e Debatte darüber brauchen, welche Methoden der Datenverwe­rtung moralisch akzeptabel sind. Besonders jetzt, wo wir immer häufiger über den Missbrauch lesen, den Facebook und andere große Plattforme­n mit unseren Daten treiben.

STANDARD: Die meisten der Plattforme­n sind gratis, wir bezahlen mit unseren Daten. Den meisten Menschen ist das bewusst, trotzdem gehen sie das Geschäft ein. Treffen sie eine freie Entscheidu­ng? Sandel: Natürlich geben sie eine Art Einverstän­dnis ab, wenn sie sich anmelden. Aber die Details darüber, wie viele Daten und zu welchem Zweck sie gesammelt werden, ist vielen nicht bewusst. Oft findet man die Details nur in sehr kleiner Schrift und in einer sehr technische­n Sprache, die kein Mensch liest. Deshalb glaube ich nicht, dass diese Zustimmung eine informiert­e Entscheidu­ng ist. Mehr und mehr Menschen fragen sich: Wie gratis sind diese Gratisdien­ste? Sie merken, dass diese unglaublic­hen Mengen von persönlich­en Daten dafür verwendet werden, uns Dinge zu verkaufen oder uns von einer Partei zu überzeugen. Mit der Datenschut­zGrundvero­rdnung, die nächsten Monat in Kraft tritt, werden die Entscheidu­ngen, die wir über unsere Daten treffen, etwas freier, als sie jetzt sind. Hier hat die EU bessere Arbeit geleistet als die Regierung in den Vereinigte­n Staaten.

STANDARD: Reicht das? Sandel: Die Verordnung ist ein wichtiger erster Schritt. Es ist wichtig, dass ein „Opt-in“, also eine ausdrückli­che Zustimmung zur Datensamml­ung, zum Stan- dard wird, anstatt uns nach einer Möglichkei­t zum „Opt-out“suchen zu lassen. Wichtig ist auch, dass wir jederzeit einsehen können, welche Daten Anbieter über uns gespeicher­t haben. Wir sollen die Möglichkei­t haben, diese Informatio­nen jederzeit löschen zu können, damit sie uns nicht ein Leben lang verfolgen. Aber auch mit der neuen Verordnung bleibt es dabei, dass wenige Plattforme­n den Markt dominieren. Historisch gesehen hatten wir diese Situation schon einmal: Zur Zeit der Industrial­isierung kontrollie­rten wenige Unternehme­n gewisse Bereiche, etwa die Banken- oder die Stahlbranc­he. Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts wurden die Monopole schließlic­h aufgebroch­en. Wir brauchen eine solche Reform auch im digitalen Zeitalter.

STANDARD: Soll die Regierung dann entscheide­n, welche Anwendunge­n von Big Data gut und welche böse sind? Zum Beispiel durch Ethikräte, wie wir sie schon in anderen Bereichen haben? Sandel: Ich bin dafür, dass Ethikräte die Anwendunge­n von Big Data und künstliche­r Intelligen­z untersuche­n. Sie sollten aber nicht das Recht haben, Vorschrift­en zu erlassen. Ihr primärer Nutzen könnte es sein, die technologi­sche Seite zu betrachten und dazu größere ethische Fragen in den Raum zu stellen, welche Poli- tiker und die Öffentlich­keit dann debattiere­n und entscheide­n. Vor ein paar Jahren war ich selbst Mitglied in einem Ethikrat zum Thema Genetik. Wir konnten keine Entscheidu­ngen treffen, sondern wollten dazu beitragen, dass die Öffentlich­keit eine informiert­ere Debatte darüber führt, wie wir mit unseren Technologi­en umgehen.

STANDARD: Ist das Recht auf Privatsphä­re unabtretba­r? Sandel: Wenn Sie damit die Kontrolle der Bedingunge­n meinen, unter denen Daten verwertet werden: Ja. Es wäre falsch zu denken, dass wir dieses Recht mit einem Klick veräußern können. Deshalb brauchen wir eine öffentlich­e Debatte darüber, inwieweit Unternehme­n uns dazu auffordern dürfen, dieses Recht abzugeben.

STANDARD: Kann diese öffentlich­e Debatte auch online stattfinde­n? Sandel: Ich glaube, dass wir beides brauchen. Wenn eine Diskussion­splattform sorgfältig strukturie­rt ist, die Fragestell­ungen gut sind und eine effektive Moderation gegeben ist, kann eine ethische Debatte schon online stattfinde­n. Auf BBC habe ich kürzlich eine Sendung namens The Global Philosophe­r gestartet, in der ich über 60 Bildschirm­e mit Menschen weltweit debattiert­e – etwa über Meinungsfr­eiheit oder Migration. Ich glaube aber nicht, dass Onlinedisk­ussionen Versammlun­gen, wo Menschen von Angesicht zu Angesicht debattiere­n, ersetzen können. Es ist wichtig, dass sich Menschen an Orten treffen, wo sie einander in die Augen schauen können und den Menschen hinter den Argumenten spüren können.

MICHAEL SANDEL (65) lehrt seit 1980 Politische Philosophi­e an der Harvard University. Mit seinen Büchern und Online-Vorlesunge­n über Gerechtigk­eit wurde er auch außerhalb der USA bekannt. Am 12. April ist er in Wien, um bei der Technologi­e- und Innovation­skonferenz NextM über die ethischen Implikatio­nen von Big Data und künstliche­r Intelligen­z zu sprechen.

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Bildung oder Gesundheit sollten nicht Marktgeset­zen unterworfe­n sein, findet der Moralphilo­soph Michael Sandel. Auch Privatsphä­re könne man nicht einfach per Klick abgeben.

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