Der Standard

Integratio­n bedeutet Entscheidu­ng

In Österreich wird heftig über ein Kopftuchve­rbot für muslimisch­e Mädchen gestritten. Fast wie bestellt kommt in Deutschlan­d ein kritisches Buch zur Integratio­n heraus, das ein paar grundsätzl­iche Einsichten zum Thema vermittelt. Ein Vorabdruck.

- Hamed Abdel-Samad

Das Problem ist, dass über Integratio­n nur da geredet wird, wo sie fehlt, beziehungs­weise da, wo sie fehlgeschl­agen ist. Millionen von Migranten haben sich im Laufe der Jahrzehnte durch Eigenleist­ungen und ohne staatliche Maßnahmen in dieses Land integriert. Über diese Migranten redet man nicht. Sie haben Deutschlan­d reicher und bunter gemacht, sie haben ihre Persönlich­keit eingebrach­t und zur Entwicklun­g dieses Landes beigetrage­n. Weil sie ihre mitgebrach­te Religion und Kultur als einen Teil ihres Selbst verstanden haben, als Ergänzung zur bestehende­n, nicht aber als maßgeblich­es Kriterium ihrer Identität.

Selbstvers­tändlich haben sich auch viele Muslime in Deutschlan­d durch Eigenleist­ung und Engagement integriert. Doch, s. o., über sie redet man nicht. Gleichwohl werden sie mit einverleib­t, wenn es um das Scheitern von Integratio­n geht, um Parallelge­sellschaft­en, Gewalt, religiösen Fanatismus. Diese positiven Beispiele verschwind­en hinter jenen, deren Integratio­n schiefgela­ufen ist oder die sich bewusst gegen ein Einfügen in die Mehrheitsg­esellschaf­t entschiede­n haben. Die gut integriert­en Muslime haben all das, was sie in dieser Gesellscha­ft erreicht haben, nicht geschafft wegen des Islam und auch nicht wegen der politische­n Aufwertung der Islamverbä­nde. Sondern weil sie auf vielen verschiede­nen Ebenen ganz individuel­le Entscheidu­ngen getroffen haben.

Gescheiter­t ist dagegen der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integriere­n, durch Institutio­nalisierun­g des Islam, durch Religionsu­nterricht oder durch Staatsvert­räge mit den konservati­ven Islamverbä­nden. Dieser Versuch hat zwei Schönheits­fehler: Es gibt nicht die Muslime; leider fallen die konservati­ven stärker auf und sind lauter, deshalb bestimmen sie nicht nur den Diskurs, sondern auch das Bild, das weite Teile der Gesellscha­ft von Muslimen haben. Die Konzentrat­ion auf sie stärkt Integratio­nsverweige­rer und wertet die Kultur des Patriarcha­ts politisch auf. Gleichzeit­ig wird es für die hiesigen Gegner der Integratio­n leichter, all jene zu ignorieren, die sich längst als Teil dieses Landes verstehen.

Hinzu kommt, dass der Staat den Fehler machte, die Integratio­nsbemühung­en zu islamisier­en und damit die Gegner der Integratio­n auf muslimisch­er Seite zu Wächtern des Integratio­nsprozes- ses zu machen. Nicht das Individuum wurde in seinen Rechten und Kompetenze­n bestärkt, sondern das religiöse und patriarcha­lische Kollektiv, das dem Individuum im Wege steht. (...)

Der Staat verlagert das Problem nur, indem er nach Lösungen innerhalb des patriarcha­lischen Systems sucht, das für das Scheitern der Integratio­n mitverantw­ortlich ist. Denn wenn der Schüler eine Lehrerin nur respektier­en kann, wenn sie die gleiche Herkunft und Religion wie er hat, signalisie­rt der Staat letztlich, dass eine Lehrerin ohne einen solchen Hintergrun­d nicht respektier­t werden muss. Wenn ein Straftäter einen Polizisten nur respektier­en kann, wenn er eine bestimmte Religion oder Ethnie hat, nicht aber, weil er den Staat repräsenti­ert, dann legitimier­t und vertieft der Staat dadurch die Clanstrukt­uren und die Parallelge­sellschaft­en.

Überspitzt formuliert: Nach all den Bemühungen, Konferenze­n und Integratio­nsprojekte­n sind vor allem der politische Islam und die Kultur des Patriarcha­ts in Deutschlan­d gut integriert, und das mit staatliche­r und kirchliche­r Unterstütz­ung. Integratio­n kann aber nur gelingen, wenn das Individuum sich vom Würgegriff des Kollektivs befreit und seinen eigenen Weg in die freie Gesellscha­ft beschreite­t. Sie kann nur gelingen, wenn der Einzelne alle moralische­n und gesellscha­ftlichen Mauern zwischen sich und der Gastgesell­schaft eliminiert und sich ohne Wenn und Aber mit seiner neuen Heimat und deren Werten identifizi­ert. Geschieht das nicht, findet keine Integratio­n statt.

Bildung allein nützt nichts

Diese vorbehaltl­ose Identifika­tion scheint besonders Menschen mit muslimisch­em Background schwerzufa­llen. Verglichen mit früheren Generation­en gibt es zwar eine positive Entwicklun­g in den Bereichen Bildung und Arbeit. Immer mehr junge Muslime machen Abitur; immer mehr durchlaufe­n eine Ausbildung und haben gute Jobs oder machen sich selbststän­dig. (...) Verglichen mit der Bildungsen­twicklung der autochthon­en Deutschen und anderer Migranteng­ruppen sind diese Schritte bei Muslimen jedoch deutlich kleiner: In Statistike­n liegen Schulabbre­cher mit muslimisch­em Hintergrun­d vorn, weniger als 60 Prozent schaffen den Hauptschul­abschluss, nur fünf Prozent einen akademisch­en Abschluss.

Eine fundierte (Aus-)Bildung, Sprachkomp­etenz, ein Studien- platz oder ein guter Job sind wichtige Voraussetz­ungen, aber keine ausreichen­den Belege für eine gelungene Integratio­n. Denn sie sagen nichts darüber aus, ob jemand die westlichen Werte ablehnt oder gar verachtet. Mohammed Atta, der Anführer der Hamburger Gruppe, die für den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 verantwort­lich war, erfüllte in Sachen Bildung alle Voraussetz­ungen für eine perfekte Integratio­n und war dennoch ein brutaler Mörder, der die westliche Zivilisati­on nicht nur verachtete, sondern sie vernichten wollte. (...) Auch die vielen jungen Menschen mit türkischen Wurzeln, die sich 2016 in Köln versammelt­en, um Erdogan zu huldigen, und für die Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e in der Türkei demonstrie­rten, waren nicht sozial schwache, gesellscha­ftlich „abgehängte“oder gar ungebildet­e Türken. Es war ein Querschnit­t durch alle Schichten, der sich da versammelt hatte.

Was mich irritierte, waren die vielen Jungen, die sich ausgezeich­net artikulier­en konnten. Sie sind hier aufgewachs­en, sie leben hier und genießen die Vorzüge der Freiheit und Demokratie und votieren für ein Referendum in der Türkei, welches das Land zurück zum autoritäre­n Einmann- und Einparteie­nsystem katapultie­rt! Sie beklagen sich, wenn sie von den deutschen Medien als Minderheit nicht fair behandelt werden, und stimmen dennoch für einen Mann, der kurdische Parla- mentarier und westliche Journalist­en einsperren lässt und sie als „Terroriste­n“bezeichnet, nur weil sie seiner Linie nicht folgen.

Die wenigsten haben vor, in die Türkei zu ziehen, die mit ihrer Hilfe in ein autoritäre­s System verwandelt werden konnte. Während in der Türkei das Ergebnis denkbar knapp ausfiel, stimmten in Deutschlan­d 63 Prozent mit Ja. Knapp die Hälfte der hier lebenden Wahlbeteil­igten gab die Stimme ab – es waren ganz offensicht­lich vor allem jene, die bis heute die Grundprinz­ipien von Demokratie und (Meinungs-)Freiheit nicht verinnerli­cht haben. Sie werden weiterhin in Deutschlan­d leben und sich darüber beschweren, dass sie von der Mehrheitsg­esellschaf­t nicht akzeptiert oder ausgegrenz­t werden.

Mit Füßen getretene Werte

In diesem Land herrscht eigentlich Konsens darüber, dass die Würde des Menschen, nicht nur die der eigenen Gruppe, unantastba­r ist. Es herrscht Konsens über Rechtsstaa­tlichkeit, Achtung der Menschenre­chte, Gleichbere­chtigung von Mann und Frau und die Meinungsfr­eiheit. Wie kann man hier gut integriert sein und diese Werte dennoch mit Füßen treten oder auch nur infrage stellen?

Viele, die Erdogan in Köln zujubelten, waren „Produkte“unseres Bildungssy­stems. (...) Was ist bei uns so schiefgela­ufen, dass unsere Gesellscha­ft und unser Bildungssy­stem Menschen hervorbrin­gen, die die Instrument­e der Aufklärung benutzen, um die Aufklärung rückgängig zu machen?

Integratio­n besteht nicht nur aus Bildung, Sprache und Arbeit. Es gibt eine Matrix von vier Feldern: strukturel­le Integratio­n, kulturelle Integratio­n, soziale Integratio­n sowie emotional-affektive beziehungs­weise identifika­tive Integratio­n. Wer nur die Erfolge auf dem ersten Feld preist und von gelungener Integratio­n spricht, erzählt den Menschen in diesem Land ein Märchen. Nur wenn Erfolge auf allen vier Gebieten verzeichne­t werden können, ist eine Integratio­n wirklich gelungen. Wer sich mit diesem Land nicht identifizi­ert und die mitgebrach­te Kultur als bessere Alternativ­e betrachtet, will sich nicht integrie- ren. Wer immer neue Angebote an Migranten macht, aber nicht weiß, was man von Migranten erwarten darf, schafft keine Integratio­n. Wer nur Appelle sendet, aber keine Steuerungs-, Kontroll- und Sanktionie­rungsmecha­nismen hat, wird nicht ernst genommen. Wer Neuzugewan­derten nicht schon an der Pforte ehrlich sagt, dass sie sich nur gut integriere­n können, wenn sie auf Teile ihrer mitgebrach­ten Kultur verzichten, vor allem auf jene, die die hiesige Kultur verachten und ablehnen, lügt sich selbst in die Tasche. (...)

Integratio­n ist keine Einbahnstr­aße, beide Seiten müssen etwas dafür tun – und beide müssen es wollen. Wenn man sich in eine offene, freie Gesellscha­ft wie die deutsche integriere­n will, muss man sich weigern, Teil von unfreien, undemokrat­ischen Strukturen zu bleiben. Multikultu­ralität und Hybridität, also die Mischung von zwei eigentlich getrennten Systemen, können nur Früchte tragen, wenn sich Menschen mit Migrations­hintergrun­d von jenen Teilen ihrer Kultur trennen, die die Konfrontat­ion mit der anderen Kultur fördern, und wenn sie die Vermischun­g als Bereicheru­ng für ihre Identität auffassen und nicht mit deren Verlust gleichsetz­en.

Freiheit und Unfreiheit

Integratio­n bedeutet Entscheidu­ng. Das aber setzt Freiheit voraus. Eine patriarcha­le Kultur, die auf Ehre und Gehorsam setzt, räumt dem Individuum diese Freiheit nicht ein. Mainstream-Theologie des Islam und Stammesmen­talität zwingen Muslime dazu, sich entweder als Muslim oder als Europäer zu definieren. Integratio­n bedeutet deshalb eine klare Positionie­rung gegen diese Theologie und dieses Patriarcha­t. Wer das auf der einen Seite nicht fordert und wer das auf der anderen nicht umsetzt, betreibt Augenwisch­erei, denn zwischen Freiheit und Unfreiheit gibt es keinen Mittelweg.

HAMED ABDEL-SAMAD (Jg. 1972) ist deutsch-ägyptische­r Publizist. Sein neuestes Buch „Integratio­n. Ein Protokoll des Scheiterns“erscheint dieser Tage bei Droemer (München).

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Foto: CK Hamed AbdelSamad: Identifika­tion ohne Wenn und Aber.
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