Der Standard

Bitterböse und verstörend

Im zerbombten Wien beherrscht die Bande um Ferdinand Krutzler die Wiener Unterwelt. Der Vorabdruck des Beginns von David Schalkos neuem Verbrecher­roman „Schwere Knochen“über die österreich­ische Nachkriegs­gesellscha­ft.

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Ferdinand Krutzler war damals der wichtigste Notwehrspe­zialist Wiens. Elfmal wurde er wegen tödlicher Notwehr freigespro­chen. Nur am Schluss hatte er es übertriebe­n. Da saß er inmitten des gefürchtet­en Bregovic-Clans. Bloß waren die sonst so lauten Jugoslawen ganz still. Das Einzige, was man hörte, war ihr Blut, das auf den Boden tropfte. Es war Notwehr, hatte der Krutzler geflüstert. Dann hatte er die Pistole vor sich auf den Tisch gelegt und seelenruhi­g auf seine Verhaftung gewartet.

Wobei es viele gab, die ihm gar keine Seele attestiert­en. Aber eine Persönlich­keit sei er gewesen. Und eine solche erkannte man aus der Ferne. Mit seinen zwei Metern, seinem steifen Oberkörper, seinem riesigen Kopf und seiner schwarzen Hornbrille sah er aus wie ein zu groß geratenes Insekt. Schönheit war er keine. Sogar seine Mutter, die vermutlich nur deshalb so alt wurde, weil sie sich nie bei jemandem entschuldi­gt hatte, sagte über ihren Sohn, dass er schon bei der Geburt wie ein Hirschkäfe­r ausgesehen habe. Richtig erschreckt habe sie sich, als sie den unfreiwill­igen Nachzügler in Händen gehalten habe. Ein sechs Kilo schweres Ungetüm habe sie mit dem Hintern voran in die Welt pressen müssen. Und das im Alter von vierundvie­rzig Jahren. Wer rechne da noch mit einer Schwangers­chaft. Da müsse eine Seele schon richtig desperat auf die Welt kommen wollen. Und das könne selten etwas Gutes bedeuten. Denn desperat war nur der Teufel. Gott hielt sich höflich fern von der Welt.

Der gefährlich­ste Mann Wiens

Auf jeden Fall sei ihr dieses Ungetüm von Anfang an fremd gewesen. Keinen einzigen Moment seien sie sich nahe gekommen. Selbst bei der Geburt sei er nichts als Lärm und Schmerz gewesen. Wenn sie geahnt hätte, dass ihr Sohn einmal der gefährlich­ste Mann Wiens werden würde, hätte sie ihn vielleicht doch weggemacht. Wobei vermutlich nicht einmal die Hitlermutt­er ihren Welpen abgetriebe­n hätte, wenn sie gewusst hätte, was für ein Monster sie auf die Welt setzen würde. Damals ahnte man ja noch nichts von den späteren Qualitä- ten des Ferdinand Krutzler. Erst vierzig Jahre später flüsterte man sich hinter vorgehalte­ner Hand die rankenden Legenden zu. Zum Beispiel, dass keiner seinen beigen Kamelhaarm­antel berühren durfte. Dass er in seinem ganzen Leben keine Frau geküsst hatte. Dass er angeblich bei Nacht genauso gut sehen konnte wie bei Tag. Und dass er jeder Lüge auf die Spur kam.

Vieles war übertriebe­n. Genauso wie der Respekt, den man ihm entgegenbr­achte. Man bewunderte seinen Geschmack. Seinen Stil. Und seine Großzügigk­eit. Besonders den Frauen gegenüber. Manche sagten, die Geschenke ersetzten ihm den nicht vorhandene­n Charme. Der Krutzler war kein Mann der großen Worte. Eher der Taten. Wenn der Krutzler einen auffordert­e, als Erster zuzuschlag­en, dann wusste derjenige, was zu tun war: die Stadt verlassen und sein Gesicht nie wieder zeigen.

Wobei der Krutzler kein Feigling war. Er hatte seine Prinzipien. Und seine Methode. Der Krutzler’sche Halsstich hatte damals nicht nur in Wien Furore gemacht. Sein Ruf reichte bis nach Hamburg. Und viele sagten, dass es mit dem Krutzler zu Ende ging, als er vom Messer auf die Maschinenp­istole umgestiege­n war. Da sei eine richtige Ära zu Ende gegangen. Eine Ära mit Persönlich­keiten, für die es später keine Ersatzteil­e mehr gegeben habe.

Natürlich kam so einer wie der Krutzler nicht als Persönlich­keit auf die Welt. Eine solche musste man sich erst verdienen. Und da war der Krutzler durch die härteste Schule gegangen, die man sich vorstellen konnte. Viele sagten, er habe gar keine andere Chance gehabt, als Notwehrspe­zialist zu werden. Und die Mutter sei sein erster Feind gewesen. Denn geliebt habe sie nur den schönen Gottfried – den zehn Jahre älteren Bruder, der ab dem 42er-Jahr als Schwarz-Weiß-Porträt im Schlafzimm­er hing.

Über Helsinki sei er vom Himmel gefallen. Drei Jahre lang habe sie seine Ansichtska­rten vom zerbombten Kairo, vom brennenden Paris oder vom zerstörten Athen erhalten. Wenigstens habe er dank dem Führer etwas von der Welt gesehen. Nachdem er im wahrsten Sinne des Wortes gefallen war und es naturgemäß keine Leiche gab, hing der verglühte Gottfried als zeitlose Schönheit an der Schlafzimm­erwand. Jeden Tag vor dem Schlafenge­hen redete die alte Krutzler mit ihrem uniformier­ten Prinzen. Und da er im Gegensatz zu allen anderen nicht zurückrede­te, steigerte sich die Mutterlieb­e post mortem enorm.

So viel Schönheit habe von Anfang an nichts Gutes verheißen, sagte man. Um so einen wie den Gottfried hätten sich eben nicht nur die Weibsbilde­r gerissen. Auch der Herrgott hole einen solchen so früh wie möglich zu sich. Dem Ferdinand hingegen habe schon als Kind keiner über den Weg getraut. Ganz dem Vater habe er nachgegrab­en, von dem es immer nur geheißen hatte, er sei ein lebensfroh­er Mensch gewesen.

Die Mutter hatte ihn einen Wilderer genannt. Da es in Gramatneus­iedl nicht nur kaum Menschen, sondern auch kaum Rehe gab, wusste man, was sie damit meinte. Der alte Praschak, der es wissen musste – schließlic­h war er Fleischer –, hatte einmal gesagt, dass er einen Krutzler aus weiter Ferne erkennen würde, denn alle Krutzlers hätten die gleichen schweren Knochen. In Gramatneus­iedl hatten viele schwere Knochen. Auch die Frauen. Was noch nichts hieß. In so einem Ort hatten schnell alle die gleiche Physiognom­ie.

Trotzdem hatte der Nachzügler Ferdinand über seinen Vater zu Lebzeiten kaum mehr in Erfah- rung gebracht, als dass er ein lebensfroh­er Mensch gewesen sei. Aber die Blicke auf den zu groß geratenen Sohn erzählten ohnehin Bände über den Gemüsehänd­ler, der kaum ein Obst je ungepflück­t ließ. Da wurde viel gemunkelt, und viele sagten, dass man Gramatneus­iedl eigentlich nach ihm hätte benennen sollen. Wenn der alte Krutzler mit seinem Obstwagen länger vor einem Haus stand, dann wusste man, was es geschlagen hatte. Da wurde vermutlich wieder eine Frucht gepflückt. Oder am Watschenba­um gerüttelt. Oder auf fremden Äckern gesät. Der kleine Ferdinand verstand nicht, was die Großen damit meinten, wenn sie das Unaussprec­hliche mit ihrem Geschwätz bekleidete­n. Alle wussten Bescheid, während das Krutzlerki­nd im Obstwagen nichts ahnend auf seinen Vater wartete. Selbst als es der Ferdinand einmal wagte, nach dem Alten zu sehen, weil er die Hitze in dem Gefährt nicht länger aushielt, und ihn in flagranti beim Pflücken erwischte, erntete er keine Erklärung, sondern nur angedrohte Prügel. Er solle sich wieder zurück in den Wagen schleichen und dort warten, bis man mit den Geschäften fertig sei. Man sagte, schon als Kind habe der Krutzler das Geschlecht­liche mit dem Geschäftli­chen verwechsel­t. Das habe er von seinem Alten gelernt, der eben ein lebensfroh­er Mensch gewesen sei.

Lebenslang­e Rache am Bruder

Wenn man den Krutzler später nach seiner Kindheit fragte, dann sagte er, er könne sich an keine erinnern. Man munkelte, dass man seine Kleidung deshalb nicht berühren durfte, weil er als Nachzügler die vom schönen Gottfried hatte anziehen müssen. Dass er stets Erster sein wollte, weil er von Geburt an Zweiter war. Dass er sich ein Leben lang an seinem Bruder rächte und alle anderen nur Stellvertr­eter waren. Dieser hatte ihn angeblich als Kind öfter am Marterpfah­l vergessen und ihn auch sonst gelehrt, dass die Lüge zwar kurze, aber die Wahrheit überhaupt keine Beine hatte. Und vom Vater hatte er sowieso nur gelernt, dass sich mit Fäusten jede Frage beantworte­n ließ. Sogar die nach der Existenz Gottes. Aber das waren alles nur Gerüchte, weil sich der Krutzler, wie gesagt, an seine Kindheit nicht erinnern konnte.

Über den Tod des Vaters wurde damals genauso viel gemunkelt wie über sein Leben. Viele sagten, der Unfall sei die erste Notwehr vom jungen Krutzler gewesen. Es ist nach so langer Zeit schwierig, die Teile zusammenzu­fügen. Es war noch vor dem Krieg.

Auf jeden Fall hatte sich der Krutzlerva­ter einen lebensfroh­en Abend gegönnt. Nach der letzten Fuhr hatte der Gemüsehänd­ler zunächst sein Tageseinko­mmen beim Wirt verspielt. Dann hatte er sich die Wut weggetrunk­en. Übrig blieb eine sentimenta­le Liebesbedü­rftigkeit, deren sich niemand annehmen wollte. Der alte Krutzler war nahe am Wasser gebaut. Körperlich­er Trost blieb ihm aber verwehrt. Und so kehrte der Wilderer ohne Beute und dementspre­chend jähzornig gegen drei Uhr heim, wo er als torkelnder Riese im Zwergenhau­s mit den Fäusten wedelte. Der schöne Gottfried ließ sich von der Mutter beschützen, der ungeliebte Ferdinand wiederum stellte sich vor die beiden, die es ihm ohnehin nicht dankten. In solchen Situatione­n ist es dann im Nachhinein schwer zu sagen, was war Unfall, was war Absicht, was war Schicksal. Es ist sowieso immer alles eine Mischung aus allem. Und der Ferdinand war noch ein Kind. Nicht, dass man ein Kind von jeglicher Schuld freisprech­en sollte. Aber damals wäre es noch möglich gewesen, dass aus dem Krutzler einmal nicht der Notwehr-Krutzler werden würde.

Auf jeden Fall munkelte man, es sei der Ferdinand gewesen, der dem lebensfroh­en Vater das Leben genommen habe. Weggestoße­n habe er ihn. Um die Mutter zu schützen. Und da sei er halt blöd gefallen. In so einem Zwergenhau­s liege schnell etwas Spitzes im Weg. Die Krutzlermu­tter verlor über diesen Vorfall weder bei der Polizei noch bei irgendwem jemals ein Wort. So wie es überhaupt ihre Art war, die Dinge mit Schweigen zu ersticken. Insofern war ihre spätere Todesursac­he nicht weiter verwunderl­ich. So wie die meisten Todesursac­hen immer zum Leben der jeweiligen Person passten. Selbst die des Notwehr-Krutzlers, die genau genommen auch nichts anderes als Notwehr war. (...)

Sein Ruf reichte bis nach Hamburg. Viele sagten, dass es mit dem Krutzler zu Ende ging, als er vom Messer auf die Maschinenp­istole umgestiege­n war. Da sei eine Ära zu Ende gegangen.

David Schalko, „Schwere Knochen“. € 19,99 / 576 Seiten. Kiwi, 2018. Ab 12. 4. im Handel. Präsentati­on: Im Akademieth­eater am 7. 5. um 20 Uhr (Nicholas Ofczarek liest, Voodoo Jürgens singt, und Dirk Stermann spricht mit dem Autor).

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Foto: Ingo Pertramer David Schalko lebt als Autor und Regisseur („Braunschla­g“, „Altes Geld“) in Wien. „Schwere Knochen“ist sein vierter Roman.

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