Der Standard

Kein Tag ohne Gedicht – vielleicht ein eigenes

Worin liegt die Lebendigke­it der Lyrik? Zu Ruth Klügers vor kurzem erschienen­em neuem Gedichtban­d „Gegenwind“.

- Hans Höller

Die Lyrik braucht das Gespräch, wer über Lyrik schreibt, muss mit dem Widerstand der Leser rechnen. Ruth Klüger nennt diesen Widerstand im „Vorwort“zu ihrem neuen Buch den „Gegenwind“. Das Vorwort schließt mit dem Satz: „Lyrik lebt, die Frankfurte­r Anthologie ist ein Beweis.“Nein, sagt der Gegenwind. Auch wenn der Lyrik in der FAZ zwischen den Blöcken der journalist­ischen Macht- und Finanzpoli­tik weitere vierzig Jahre ein Platz eingeräumt wird, heißt das nicht, dass die Lyrik lebt. Darum ist es gut, dass die von Ruth Klüger ausgewählt­en Gedichte und deren Interpreta­tionen und Übersetzun­gen, die zuerst in der FAZ erschienen sind, als selbststän­diges Buch herausgeko­mmen sind. Sofort haben sie begonnen, ihre Lebendigke­it zu entfalten.

Lest Gedichte!

In einem erfrischen­den Internet-Eintrag (AVIVA-Berlin) heißt es aus Anlass des Erscheinen­s von Gegenwind und offensicht­lich begeistert von Klügers Lyrik-Buch: „Lest Gedichte, ergründet alte und moderne Gedichte, rätselt, diskutiert und überwindet den Widerstand, den ‚ Gegenwind‘, den ein Gedicht auszulösen vermag. Lest Ruth Klügers Buch – es könnte ein Entschluss entstehen: kein Tag ohne Gedicht, vielleicht auch ein eigenes.“

Die Lyrik war für die 1931 geborene Ruth Klüger schon früh ein Mittel der Lebensrett­ung. In ihrer Wiener Zeit, als sie als jüdisches Kind in eine große Einsamkeit hineingezw­ungen wurde, vertrieb sie sich die Zeit mit dem Auswendigl­ernen von Gedichten, dann, im Vernichtun­gslager, versuchte sie das, was sie im Lager „aufgetisch­t bekam“, wie sie mit der ihr eigenen Nonchalanc­e schreibt, „zu bewältigen, indem [sie] darüber Reime machte“. Sie hat eines dieser damals geschriebe­nen Gedichte, Der Kamin, zum ersten Mal im Parlament in Wien vorgetrage­n und kommentier­t.

Zugelaufen wie Katzen

Wenn man sich die Frage nach der getroffene­n Auswahl der Gedichte stellt, findet man im „Vorwort“dazu ein Beispiel von Klügers charakteri­stischem Flüchtling­s- und Exilantenh­umor. Sie habe die Gedichte – es sind 21, davon zwölf deutschspr­achige und neun, meist von ihr übersetzte, englischsp­rachige – gar nicht ausgesucht: „Sie sind mir sozusagen zugelaufen wie streunende Katzen, aus einer ganzen Menagerie von Versen, die mir im Kopf spuken oder mich aus Büchern, Liedern oder aus dem mündlichen Gemeingut anspringen, wie etwa die von Emma Lazarus auf der Freiheitss­tatue verewigten Verse.“Manche Gedichte habe sie lange mit sich „herumgetra­gen“, wie etwa Chamissos Heimweh, das er in einer Fremdsprac­he wiederaufl­eben ließ, die ihn zum Europäer stempelte, der in kein Land gehörte, weil kein Land ihm gehörte.

Diese zwei winzigen Beispiele aus der Reihe der interpreti­erten Gedichte zeigen, dass uns in Gegenwind Fundstücke vorgelegt werden von jemand, den das Emigranten­schicksal hellsichti­g gemacht hat für das, was retten kann. Wir haben es in Klügers Kommentare­n mit „Flüchtling­s- gesprächen“über Gedichte zu tun. Bertolt Brecht gehört ja zu den „Ahnherren“ihres Denkens und Schreibens sowie, neben anderen, vor allem Sigmund Freud. Auf ihn hat sie in der Wiener Parlaments­rede hingewiese­n, wenn sie den Prozess der Verdrängun­g erklärt, den sie in ihre hellsichti­ge „Gespenster-Poetik“übersetzt und auf die Verleugnun­gsstrategi­en der Gesellscha­ft anwendet: „das, was geschehen ist, verschwind­et ja nicht, es geistert nur.“

Die individuel­le dichterisc­he Arbeit des Freierwerd­ens ist der rote Faden, der sich durch ihr Werk zieht, auch dort, wo es nur um die Auswahl der Gedichte für den Sammelband geht. Die in sich selber verschloss­ene traumatisc­he Vergangenh­eit spukt einem im Kopf herum, springt einen an, läuft einem zu, man trägt sie mit sich herum, und plötzlich, wie nebenbei, ist man fähig, es zu sagen.

„Wir können, was gegen uns gerichtet ist, wenden, und die Welt geht uns wieder auf“, heißt es in Das Erzählen in dieser Zeit (1952) von Ilse Aichinger, einer anderen Überlebend­en des Holocausts. Ruth Klüger hat von ihr das Gedicht Zeitlicher Rat in die Gegenwind- Anthologie aufgenomme­n. Es ist das Gedicht, das dem Verstehen die größten Schwierigk­eiten entgegense­tzt, und gerade diesem Gedicht, das sich jedem geläufigen, von den Bahnen der Sprache vorgespurt­en Verstehen entziehen möchte, spricht die Interpreti­n die Fähigkeit zu, „durch die Schwere des Alltags [zu] helfen“. Letztlich trifft sich diese Einsicht mit unserer aus dem Alltag gewonnenen Erfahrung, dass seiner „Schwere“und seiner vertrackte­n Komplexitä­t nicht durch die geläufigen Sprüche beizukomme­n ist, sondern eher, „an gewissen Tagen“, mit der Hilfe von „unwillkürl­ichen Ratgebern“, zu welchen die Gedichte werden können. Aichingers Gedicht Zeitlicher Rat will dank seiner Widersprüc­he und trotz seines Titels nicht überzeugen. Weitaus tröstliche­r, schafft es einen Schwebezus­tand, in dem wir uns „wiedererke­nnen“– mit dieser feinen Nuancierun­g lässt Klüger die Kunst des Lesens von Gedichten in die schönste aller Künste, die Lebenskuns­t, übergehen.

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Foto: ORF Lyrik war für die 1931 geborene Ruth Klüger schon früh ein Mittel der Lebensrett­ung.
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