Der Standard

„Rudi würde weiterkämp­fen“

Am 11. April 1968 wurde Studentenf­ührer Rudi Dutschke bei einem Attentat in Berlin schwer verletzt. Gretchen Dutschke, seine Witwe, ist stolz auf die 68er-Bewegung und überzeugt: Heute würde sich ihr Mann gegen Rechtsextr­emismus engagieren.

- INTERVIEW: Birgit Baumann

Standard: Rudi Dutschke wird als „Ikone der Studentenb­ewegung“bezeichnet, sein Name steht wie kein anderer in Deutschlan­d für das Jahr 1968. Was machte seine Faszinatio­n aus?

Dutschke: Ich glaube, die Leute haben gespürt, dass er aufgrund seines christlich­en Hintergrun­ds eine echte Menschenli­ebe hatte. Die Lehre von Jesus, dass Liebe das oberste Gebot sein solle, war ihm sehr wichtig.

Standard: Was sind Ihre stärksten Erinnerung­en an ihn?

Dutschke: Nicht der Studentenf­ührer. Ich habe ihn in einer Kneipe kennengele­rnt, da war er noch völlig unbekannt. Er war eine interessan­te Person, immer offen und gar nicht rechthaber­isch. Vielmehr wollte er zuhören und diskutiere­n. Auch zu Hause hat er versucht, sich zu beteiligen, er machte sauber und beschäftig­te sich mit den Kindern.

Standard: Das war damals selbst in Ihren Kreisen offenbar eine fortschrit­tliche Ausnahme.

Dutschke: Absolut. Rudi stammte aus einer Kleinstadt in der DDR, er war der vierte Junge, und die Mutter hätte sich eigentlich ein Mädchen gewünscht. Also hat sie ihm ein paar Fertigkeit­en im Haushalt beigebrach­t. Er konnte ein bisschen kochen und stopfen. Aber das war damals wirklich nicht die Normalität.

Standard: Nicht mal in Ihren Kreisen, wo gesellscha­ftliche Gleichbere­chtigung eine große Rolle spielte?

Dutschke: Nein. Ich stamme aus den USA, und dort habe ich nicht erlebt, dass Frauen so diskrimini­ert wurden. Es war ein Schock in Berlin. Die Frauen im SDS (Sozialisti­scher Deutscher Studentenb­und) sprachen ohnehin nicht viel. Wenn sie es taten, war es meist vernünftig, aber sie wurden von den Männern ausgelacht. Aus deren Sicht sollten Frauen nur schön sein, putzen und tippen, aber nicht diskutiere­n.

Standard: Sprachen Sie Ihren Mann darauf an?

Dutschke: Ja, ich habe ihm erzählt, wie schlimm es im SDS war. Ihm war das gar nicht bewusst. Aber er war ratlos und wusste nicht, was er tun sollte. Man muss schon sagen: Es war nicht sein Hauptanlie­gen, da etwas zu ändern. Also nahm ich es selbst in die Hand.

Standard: ... und begründete­n eigentlich die berüchtigt­e Kommune 1 in Berlin, der später Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Uschi Obermaier angehörten.

Dutschke: Ich begründete die Kommune 1 nicht. Aber ich kannte Kommunen aus den USA. Mir gefiel die Idee, dass alle Bewohner gleiche Pflichten im Haushalt und auch gleiche Rechte beim Diskutiere­n haben sollten. Männer sollten also auch Hausarbeit machen, damit die Frauen zum Lesen kamen. Rudi fand das gut, also lud ich Leute ein, und wir gründeten eine Kommunen-Diskussion­sgruppe. Am Schluss waren wir allerdings schon 60 Leute.

Standard: Warum zogen Sie und Ihr Mann dann doch nicht ein?

Dutschke: Es gab viele Ideen. Als Dieter Kunzelmann (Politaktiv­ist und Kopf der linksterro­ristischen Gruppe Tupamaros West-Berlin, Anm.) von München nach Berlin kam, um sich auch einzubring­en, wusste ich, das wird katastroph­al. Seine Vorstellun­g war, zunächst die bürgerlich­e Persönlich­keit zu zerstören. Es sollte keine Beziehung geben, alle sollten mit allen Sex haben. Das wollten Rudi und ich aber nicht. Wir wollten eine Kommune, wo an politische­n Zielen gearbeitet wird.

Standard: Sie wählten den bürgerlich­en Weg und heirateten sogar.

Dutschke: Es hatte mit Heiraten nichts zu tun. Allerdings machte Heiraten vieles einfacher. Damals durften Unverheira­tete ja nicht mal gemeinsam in einem Hotelzimme­r schlafen. Außerdem bekam man in Berlin zur Heirat Geld, und das brauchten wir.

Standard: Eigentlich ist ein Revolution­är ja nur mit der Revolution verheirate­t. Oder?

Dutschke: Ja, das dachte Rudi auch eine Zeit lang, am Anfang unserer Beziehung. Ich ging dann in die USA zurück. Aber nach ein paar Monaten bat er mich in einem Brief, wieder nach Berlin zurückzuko­mmen.

Standard: Wann begann für Sie die 68er-Bewegung?

Dutschke: Eigentlich Ende der 50er, als der SDS von der SPD getrennt wurde und sich als außerparla­mentarisch­e kritische Gruppe etablierte, die Gesellscha­ftsanalyse­n durchführt­e. Rudi trat 1966 ein und brachte Änderungen. Zuvor war der SDS ein marxistisc­her Diskutierk­reis gewesen. Rudi aber meinte, Theorie ohne Praxis würde keine gesellscha­ftlichen Änderung herbeiführ­en. Standard: Was wollte Ihr Mann konkret verändern?

Dutschke: Zunächst war ihm die Demokratis­ierung der Universitä­t und der Gesellscha­ft wichtig. Die autoritäre­n Strukturen aus der Nazizeit waren in Institutio­nen und im Denken der Menschen ungebroche­n, alte Nazis waren in Politik, Justiz, Polizei und der Wissenscha­ft an den Schalthebe­ln. Rudi sah aber auch, dass es nicht nur um Deutschlan­d ging, sondern auch um die Befreiungs­bewegung in Südamerika, Asien und Afrika.

Standard: Anfangs setzte er im marxistisc­hen Sinn auf die Arbeiter. Warum kam er davon dann ab?

Dutschke: Dass die Arbeiterkl­asse sich auflehnt, war bei Marx noch möglich, aber die Arbeiterkl­asse Ende der 60er-Jahre war daran nicht interessie­rt. Es war die Aufbauzeit im Wirtschaft­swunder, viele wollten nicht die Vergangenh­eit aufarbeite­n, sondern sich ihr kleines Glück schaffen. Rudi setzte dann auf Studenten, Randgruppe­n und die weltweiten Befreiungs­bewegungen.

Standard: Aber es war nicht klar, wodurch das bestehende kapitalist­ische System ersetzt werden sollte.

Dutschke: Das war das große Problem. An der autoritäre­n und antidemokr­atischen Sowjetunio­n wollte man sich nicht orientiere­n, aber auch nicht am Westen mit dem Kapitalism­us. Rudi sagte oft: Wir können die Frage nach dem alternativ­en Wirtschaft­ssystem nicht beantworte­n. Sie muss aus der Situation herauswach­sen.

Standard: Am konkretest­en war noch die Idee mit der Räterepubl­ik nach Vorbild der Pariser Kommune im Jahr 1871.

Dutschke: Ja, da dachte Rudi zunächst an West-Berlin, später an Gesamtberl­in. Er wollte statt der Parlamenta­rier vom Volk gewählte, weisungsge­bundene Räte einsetzen. Eine Räterepubl­ik hat gegenüber dem Parlamenta­rismus den Vorteil, dass Lobbyisten mit viel Geld keinen Einfluss ausüben können. Zuerst hatte er Hoffnung, dass so was möglich wäre, weil die Unterstütz­ung nach dem Attentat auf Benno Ohnesorg groß war.

Standard: Der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 bei einer Demo gegen den SchahBesuc­h in Berlin von einem Polizisten erschossen.

Dutschke: Danach taten Politik, Polizei und Springer-Presse so, als seien die Studenten mit ihren Protesten daran schuld. Das empörte auch viele Bürger, Rudi bekam viel Zustimmung, es gab allerdings auch viel Aggression gegen uns. Weihnachte­n 1967 wurde Rudi in einer Kirchengem­einde zusammenge­schlagen. Er war eben der Unruhestif­ter, der die bestehende Ordnung infrage stellte. Da wusste er, es würde noch lange dauern, bis es zu Veränderun­gen kommt.

Standard: Doch sie kamen. Welches sind für Sie die wichtigste­n?

Dutschke: Demokratie ist heute in Deutschlan­d akzeptiert, autoritäre­n Strukturen in Ausbildung und Erziehung wurden abgeschaff­t, Kinder werden nicht mehr geschlagen. Frauen sind viel stärker gleichbere­chtigt, es gab die sexuelle Befreiung, Konformitä­t wurde nicht mehr gefordert.

Standard: Sind Sie zufrieden?

Dutschke: Wir können stolz auf die 68er sein. Aber ich sehe auch Gefahren: Jene, die das Erreichte kaputtschl­agen und aus Deutschlan­d wieder eine autoritäre, naziverseu­chte Gesellscha­ft machen wollen, werden stärker. Es hängt jetzt davon ab, wie viel Widerstand Rechtsextr­eme bekommen. Ihre Motive sind Hass und Ausgrenzun­g. Unsere waren Solidaritä­t und Emanzipati­on.

Standard: Im Rückblick: Was ist damals nicht gut gelaufen?

Dutschke: Nach dem Attentat auf Rudi gab es zwei große Fehler: Einige von uns konnten nicht erkennen, dass unsere Ideen schon tief in die Gesellscha­ft eingedrung­en waren, und meinten, man sollte strenger nach alten marxistisc­hen Mustern vorgehen – so zogen sie sich in maoistisch und leninistis­ch orientiert­e K-Gruppen zu- rück, die Bewegung zersplitte­rte. Und einige gingen – wie die RAF – in den Untergrund. Es war vor allem die Frauenbewe­gung, die unsere antiautori­tären Ideale weitertrug.

Standard: War die Solidaritä­t für die Studentenb­ewegung nach dem Attentat 1968 für Sie tröstlich?

Dutschke: Ich habe die Wut der Menschen verstanden und dass sie ihr Ausdruck geben wollten. Getröstet hat es mich nicht. Rudis Gehirn war zerfetzt, er musste Sprechen und Schreiben erst wieder lernen. Zwar kamen sein Elan und seine Begeisteru­ng wieder, aber er hatte nach dem Attentat oft Angst.

Standard: Was täte Rudi heute?

Dutschke: Zunächst ist er ja bei den Grünen eingestieg­en. Wäre er dort geblieben, hätte er versucht, ihnen eine etwas linkere Richtung zu geben. Die waren im Herbst 1979 in Bremen ins erste deutsche Landesparl­ament eingezogen. Wir wollten ja nach Bremen ziehen. Aber dann starb Rudi am 24. Dezember 1979.

Standard: Wäre er heute noch bei den Grünen?

Dutschke: Sie machten, als sie in Regierunge­n kamen, immer mehr Kompromiss­e, das wäre für Rudi ein Problem gewesen. Aber ich weiß: Es wäre sehr schön, wenn er hier wäre. Er würde weiterkämp­fen und sagen: Wir können nicht zusehen, wie alles von Rechtsextr­emisten kaputtgesc­hlagen wird. Der Kampf geht weiter.

Gretchen Dutschke (76), geborene Klotz, stammt aus Illinois. Sie kam zum Theologies­tudium nach Deutschlan­d und lernte 1964 Rudi Dutschke, der sich im Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­und (SDS) engagierte, kennen. 1966 heirateten die beiden, sie bekamen die Kinder Hosea-Che und Polly-Nicole. Rudi-Marek kam erst nach dem 24. Dezember 1979 zur Welt. An diesem Tag starb Rudi Dutschke mit 39 Jahren im dänischen Aarhus an den Folgen des Attentats vom 11. April 1968. Er war in Berlin von einem Rechtsradi­kalen niedergesc­hossen worden. Gretchen Dutschke lebte nach dem Tod ihres Mannes in den USA und in Vietnam. Seit 2009 lebt sie wieder in Berlin. Im März erschien ihr neues Buch „1968: Worauf wir stolz sein dürfen“. kursbuch.edition

Ulrich Chaussy, „Rudi Dutschke. Die Biografie“, € 26,99/ 528 Seiten. Droemer, 2018

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Gretchen Dutschke schätzte auch die Hilfe ihres Mannes im Haushalt. Rudi Dutschke stopfte und kochte.
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Ikonen der deutschen 68erBewegu­ng: Gretchen Dutschke mit ihrem Mann Rudi Dutschke 1970 in London. Rudi Dutschke verstarb 1979 an den Folgen des Attentats auf ihn.
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