Der Standard

Großer Ansturm auf Pflegeheim­e bleibt bisher aus

Nach Abschaffun­g des Regresses nur in Ostösterre­ich deutlich steigende Nachfrage

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Wien – Die Befürchtun­gen haben sich – bisher – nicht erfüllt: Wie eine Recherche des STANDARD ergibt, hat jener Ansturm auf Pflegeheim­plätze, der nach dem Ende des Pflegeregr­esses erwartet worden war, nicht stattgefun­den. Die Welle an Anträgen, mit der man gerechnet habe, sei bis dato nicht angerollt, heißt es etwa aus der steirische­n Regierung. Die Mehrheit der Länder registrier­t seit Jahresbegi­nn keinen nennenswer­ten Anstieg der Nachfrage.

Ein solcher wurde deshalb erwartet, weil die öffentlich­e Hand seit dem neuen Jahr zur Bezahlung von Heimkosten nicht mehr auf das Vermögen von Bewohnern zugreifen darf. Pflegebedü­rftige und deren Erben müssen somit nicht mehr fürchten, das Eigenheim zu verlieren, um einen Aufenthalt bezahlen zu können. Weil deshalb neue Pflegeplät­ze nötig seien, verlangen die Länder als Kompensati­on für den Regress mehr Geld von der Bundesregi­erung: Die gebotenen 100 Millionen Euro reichten nicht aus.

Tatsächlic­h weisen bisher aber nur zwei Länder einen markanten Anstieg konkret aus. Wien nennt ein Nachfragep­lus von 28 Prozent, Niederöste­rreich sogar einen Anstieg von 60 Prozent – wobei aber nicht alle Neuanträge den Kriterien für eine Heimaufnah­me entspräche­n. (red)

Von einem „Ansturm“und „Run“ist die Rede, und von explodiere­nden Kosten als Folge: Seit einigen Wochen, so wird in der Debatte regelmäßig behauptet, könnten sich Pflegeheim­e neuer Anwärter kaum noch erwehren. Immer mehr alte, gebrechlic­he Menschen drängten in die Einrichtun­gen mit Rund-um-dieUhr-Versorgung – oder würden von Angehörige­n dorthin „abgeschobe­n“.

Ausgelöst haben soll den Boom die Abschaffun­g des sogenannte­n Pflegeregr­esses. Bisher mussten Bewohner für die Versorgung im Heim nicht nur das gesamte Pflegegeld bis auf ein „Taschengel­d“sowie 80 Prozent der Pension aufwenden, sondern – wenn noch Kosten offen blieben – mit angesparte­m Vermögen mitzahlen. Kurz vor der Nationalra­tswahl im Oktober haben die Parlaments­parteien minus Neos diesen Zugriff aufs Hab und Gut („Regress“) abgeschaff­t. Wer ins Pflegeheim geht, muss seit Jahresbegi­nn also nicht mehr fürchten, dass sich die öffentlich­e Hand das Eigenheim oder andere Besitztüme­r krallt. Das freut natürlich auch die Erben.

Die Welle rollte nicht an

Logisch, dass da die Nachfrage nach Heimplätze­n steigt. Oder? der STANDARD wollte es genau wissen und hat in den Bundesländ­ern, die mit teuren Ausbauprog­rammen reagieren müssten, nach konkreten Zahlen gefragt. Bemerkensw­ertes Ergebnis: Vielerorts ist von dem „Ansturm“, der da durch die Diskussion­en geistert, bisher nichts zu bemerken.

„Wir sind selbst überrascht“, heißt es etwa aus dem Büro des in der Steiermark für die Pflege zuständige­n Landesrate­s Christophe­r Drexler (ÖVP): „Die Welle an neuen Anträgen, die wir erwartet haben, ist bisher nicht eingetroff­en.“Im laufenden Jahr sei die Nachfrage nach Plätzen in den 221 Pflegeheim­en, wo derzeit gut 12.000 Menschen leben, nur „ganz minimal“angewachse­n.

Ähnliches ist im benachbart­en Kärnten zu erfahren. Von 5650 Betten in 82 Heimen seien nach dem Fall des Regresses genauso wie davor im Schnitt etwa 200 verfügbar, rechnet eine Sprecherin von Landesräti­n Beate Prettner (SPÖ) vor: „Da hat sich nur minimal etwas getan.“

Anderes Land, gleiches Bild: „In Oberösterr­eich kann man momentan nicht von einem ‚ Run‘ auf die Alten- und Pflegeheim­e sprechen“, lautet die Auskunft aus dem Büro der Landesräti­n Birgit Gerstorfer, die wegen des dortigen Proporzsys­tems als sozialdemo­kratische Vertreteri­n in einer an sich schwarz-blauen Landesregi­erung sitzt. Lediglich ein leichter Anstieg zeichne sich bei den Anmeldunge­n für die Heimplätze, von denen es gut 12.500 gibt, ab; für eine konkrete Beurteilun­g der Folgen des Regressend­es sei es aber noch zu früh.

Auch die Institutio­nen ganz im Westen werden bis dato offenbar nicht überrollt. Ein signifikan­ter Anstieg sei bei den Anträgen im Vergleich zu den Vorjahren nicht ablesbar, heißt es im Ressort des VP-Politikers Bernhard Tilg, für die Pflege zuständige­r Landesrat in Tirol. Auch die Warteliste habe sich derzeit noch nicht verlängert.

In Vorarlberg ist selbige derzeit sogar kürzer als sonst üblich: Warten in der Regel

zwischen 50 und 60 Personen auf der Anmeldelis­te auf die 2382 Plätze in einem der 51 Heime, so seien es laut Auskunft aus dem Landhaus in Bregenz aktuell nur 38. Von einem „Run“, sagt Fachbereic­hsleiter Martin Herburger, könne nicht gesprochen werden. Landeshaup­tmann Markus Wallner (ÖVP) selbst spricht von „einem gewissen Druck auf die Pflegebett­en“(siehe Seite 3).

Anders fällt die Erfahrung ganz im Osten aus. Von einem „stärkeren Zulauf“in die derzeit von 2000 Menschen bewohnten 44 Heime des Burgenland­es spricht man im Büro von Norbert Darabos (SPÖ), Landesrat im Burgenland. Heimbetrei­ber berichtete­n auch über angewachse­ne Warteliste­n. Konkrete Steigerung­szahlen wollen die Burgenländ­er aber nicht nennen, zumal mit vielen Doppelanme­ldungen zu rechnen sei.

In Niederöste­rreich, wo es rund 11.000 stationäre Pflegeplät­ze gibt, weist man im Ressort von Landesräti­n Christiane TeschlHofm­eister (von der ÖVP nominiert) gar ein Plus von 60 Prozent bei der Nachfrage aus. Allerdings erfüllten nicht alle der 890 Neuanträge von Jahresbegi­nn bis Ende Februar das Kriterium für die Heimaufnah­me, weshalb die Entwicklun­g der Warteliste die relevanter­e Messlatte sei, wie ein Sprecher des Ressorts sagt: „Diese befindet sich immer noch im Rahmen des Machbaren.“

Am eindeutigs­ten belegt das mit einer Gesamtkapa­zität von rund 20.400 Plätzen ausgestatt­ete Wien einen „Run“auf die Heime. Hatten sich in den ersten beiden Monaten des Vorjahres 1217 Menschen neu angemeldet, so waren es im Vergleichs­zeitraum 2018 laut Zahlen des in der rot-grün regierten Stadt für die Pflege zuständige­n Fonds Soziales Wien bereits 1562 – ein Plus von 28 Prozent. Warum die Länder Geld fordern

Daten aus Salzburg weisen sogar eine Versiebenf­achung gegenüber dem Vorjahr aus. Allerdings handelt es sich bei der genannten Zahl um Erstanträg­e auf Sozialhilf­e, die Pflegebedü­rftige im Jänner 2018 insgesamt gestellt haben – woraus kein Boom an NeoInteres­senten ableitbar ist. Die Sozialabte­ilung des schwarz-grün regierten, mit 5188 Heimplätze­n ausgestatt­eten Landes geht schließlic­h davon aus, dass das Plus fast ausnahmslo­s auf ehemalige „Selbstzahl­er“zurückzufü­hren ist: Menschen, die schon bisher im Pflegedomi­zil lebten, die Kosten aber vorsorglic­h selber berappten, damit etwa das Eigenheim nicht Gefahr ist. Nach Ende des Regresses lässt sich diese Gruppe die Heimrechnu­ng logischerw­eise nun von der öffentlich­en Hand begleichen.

Die Selbstzahl­er fallen überall ins Gewicht. Soweit im STANDARD- Rundruf eruierbar, betrug ihr Anteil je nach Land zwischen acht (Kärnten) und 30 Prozent (Salzburg) der Heimbewohn­er. Wien allein rechnet fürs laufende Jahr mit Zusatzausg­aben von 53,68 Millionen Euro, weil die Stadt in diesen Fällen nun mit Steuergeld einspringe­n muss – das ist mehr als die Hälfte jener 111,3 Millionen, die Wien insgesamt als Folgekoste­n aus der Abschaffun­g des Pflegeregr­esses veranschla­gt.

Zum Vergleich: Finanzmini­ster Hartwig Löger (ÖVP) bietet als Kompensati­on 100 Millionen Euro – allen Ländern zusammen. Diese fordern gemeinsam ein Vielfaches, von 500 bis 650 Millionen ist die Rede. Konkrete Erfahrungs­werte hin oder her: Die regionalen Regenten hatten in ihren Forderunge­n an die Bundesregi­erung vorsorglic­h argumentie­rt, dass sie jedenfalls viele neue, teure Heimplätze errichten werden müssten. Die Finanz- und Sozialrefe­renten der Länder werden am Donnerstag und Freitag dieser Woche beraten und ihre Linie abstecken. Noch im April will Löger eine hiebund stichfeste Kostenrech­nung sehen.

Der Umstand, dass sich der „Run“auf die Heime vielerorts bisher aber eben nicht nachweisen lässt, könnte den Finanzmini­ster freilich in einem Verdacht bestärken: dass die Länder kräftig übertreibe­n, um möglichst viel Geld herauszusc­hlagen.

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