Der Standard

Brasilien vor der politische­n Zerreißpro­be

Der Haftantrit­t von Expräsiden­t Lula da Silva bringt das Land in Aufruhr – Anhänger sehen ein Komplott

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

ANALYSE: Was für viele Anhänger von Brasiliens Expräsiden­ten Luiz Inácio Lula da Silva vor einigen Tagen noch undenkbar schien, ist Realität geworden. Der 72-Jährige hat seine Haftstrafe angetreten. Für Brasilien ist das eine Zäsur. Das Land ist in Aufruhr. Überall kommt es zu Protesten. Denn erstmals geht mit Lula ein Expräsiden­t in Brasilien ins Gefängnis. Lula selbst steht vor den Trümmern seines Lebenswerk­s. 2011 schied er mit 83 Prozent Zustimmung als populärste­r Präsident aller Zeiten aus dem Amt. Jetzt wartet eine Haftstrafe von zwölf Jahren und einem Monat wegen Korruption auf den Übervater der brasiliani­schen Linken.

Lula wird vorgeworfe­n, als Gegenleist­ung für Aufträge von dem Bauunterne­hmen OAS eine Luxuswohnu­ng im Küstenort Guarujá erhalten zu haben. Lula bestreitet die Vorwürfe und sieht sich als „politische­n Häftling“.

Für Brasiliens Linke ist Lula Opfer eines Komplotts der konservati­ven Medien und einer politisch vereinnahm­ten Justiz. Nur gegen Lula sei ermittelt worden, Bestechung­svorwürfe gegen Politiker der Regierungs­partei PMDB würden nicht verfolgt, so der Vorwurf. Dabei geht es um Geldkoffer und abgehörte Telefonate, in die Staatspräs­ident Michel Temer persönlich verstrickt ist. Doch die Arbeiterpa­rtei hat auf keinen Fall eine weiße Weste. Sie steckt ebenfalls tief im Korruption­ssumpf.

Unter Juristen umstritten

Allerdings ist die Verurteilu­ng von Lula für eine Wohnung, deren Besitz das Gericht nicht eindeutig nachweisen konnte, unter Juristen umstritten. Doch es laufen weitere Korruption­sermittlun­gen gegen Brasiliens Expräsiden­t, die ein weitaus größeres Ausmaß haben. Zahlreiche Linkspolit­iker und Vertraute des Expräsiden­ten waren in den milliarden­schweren Bestechung­sskandal rund um den halbstaatl­ichen Ölkonzern Petrobras verwickelt.

Mit einer flammenden Rede verabschie­dete sich Lula von seinen Anhängern, die sich seit Tagen vor der Gewerkscha­ftszentral­e in São Bernardo do Campo ver- sammelt hatten, dem Gründungso­rt von Brasiliens Arbeiterpa­rtei. „Ich werde denen nicht verzeihen, die in Umlauf gebracht haben, dass ich ein Dieb bin“, rief Lula. Gemeint waren der als äußerst ehrgeizig geltende, aber auch umstritten­e Richter Sérgio Moro und die Staatsanwa­ltschaft in Curitiba. Lula wirft Moro eine politisch motivierte Rechtsprec­hung vor. Denn sein Urteil stützt sich nur auf Telefonate und Zeugenauss­agen. Schriftlic­he Dokumente liegen nicht vor.

Mit Lula wird der aktuell aussichtsr­eichste Kandidat aus dem Rennen um die Präsidents­chaftswahl im Oktober genommen. Der Exgewerksc­haftsführe­r liegt mit 36 Prozent weit vor seinen Kontrahent­en. Offiziell hält die Arbeiterpa­rtei an ihrem Kandidaten fest, auch wenn er in Haft ist. „Es gibt keinen Plan B“, betont die Parteivors­itzende Gleisi Hoffmann. Doch laut dem 2010 von Lula selbst unterzeich­neten „Saubere Westen“-Gesetz dürfen in zweiter Instanz verurteilt­e Politiker nicht an Wahlen teilnehmen.

Die Frage ist auch, wie stark Lulas Stimme sein wird, wenn er hinter Gittern ist. Noch ist unklar, wie sich die Haft auf das Wahlszenar­io auswirken wird. Die Clique um den umstritten­en Übergangsp­räsidenten Temer konnte sich noch auf keinen Kandidaten einigen. Viele Spitzenleu­te und auch Temer selbst sind in Korruption­sverfahren verstrickt. Sie hoffen aber auf eine geringe Wahlbeteil­igung von Lulas Anhängern. Damit könnten sie ihren Kandidaten zumindest in die Stichwahl bringen, so das Kalkül. Profitiere­n von dem politische­n Vakuum wird aber der lange unterschät­zte Exmilitär und rechtsextr­eme Abgeordnet­e Jair Bolsonaro. Aktuelle Umfragen ohne Lula sehen ihn mit rund 26 Prozent auf Platz eins.

Brasilien steht nicht nur politisch vor einer Zerreißpro­be. Auch gesellscha­ftlich ist das Land tief gespalten. Gegner und Anhänger des Expräsiden­ten stehen sich unversöhnl­ich gegenüber. Lulas Anhänger haben zu Massenprot­esten und einem „roten April“aufgerufen. Mit Straßenspe­rren und Massendemo­s kündigten sie ihren Widerstand an. „Das ist nur der Beginn“, sagt Gewerkscha­ftspräside­nt Vagner Freitas.

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