Der Standard

Kahr und die provoziert­e Nachrede

Im ersten Verfahren um Missbrauch im Skisport verlieren am Ende fast alle

- Fritz Neumann

Darf ich Sie missbrauch­en?“Es war der Anwalt Manfred Ainedter, dem dieser Satz im Bezirksger­icht in Bludenz über die Lippen kam. Er sagte ihn am Rande jenes Verfahrens wegen übler Nachrede, das der ehemalige Skitrainer Charly Kahr (85) gegen eine ehemalige Vorarlberg­er Skirennläu­ferin sowie deren Ehemann angestreng­t hatte. Er sagte ihn zum Gerichtsvo­rsteher, den er mit zehn Euro losschickt­e, um eine Taxirechnu­ng zu begleichen.

Warum wählt Ainedter, der Kahr vertritt und selten unbedacht spricht, eine solche Formulieru­ng am Rande eines Verfahrens, in dem es um schweren sexuellen Missbrauch geht? Das ist eine der Fragen, die in Bludenz aufgeworfe­n wurden. Eine andere: Wie hat es überhaupt dazu kommen können, dass diese Sache – noch dazu öffentlich – verhandelt wird?

Es ist schleierha­ft, wieso sich Kahr von dieser Klage nicht abbringen ließ – war doch von Anfang an aufgelegt, dass neben den Beklagten auch Kahr selbst und Österreich­s Jahrhunder­tsportleri­n Annemarie Moser-Pröll (65) ins Zentrum des Verfahrens geraten und dem Vorwurf der üblen Nachrede die Vorwürfe schwerer Übergriffe gegenübers­tehen würden. So gilt es in dem Fall stets festzuhalt­en, dass nicht nur für die Beklagten, sondern auch für den Kläger die Unschuldsv­ermutung gilt.

„Wurden Sie von Charly Kahr entjungfer­t, noch bevor Sie 16 Jahre alt waren?“Diese Frage bekam Pröll von der Richterin gestellt. Damit, wenn auch vielleicht nicht in aller Öffentlich­keit, hatte sie rechnen müssen. Denn dieser Vorwurf – natürlich nicht an Moser-Pröll, sondern an Kahr – war Gegenstand einer Whatsapp-Nachricht der Beklagten an Moser-Pröll. Diese informiert­e Kahr vom Inhalt der Nachricht, der wiederum Ainedter informiert­e. Und schon war die Klage auf D dem Weg. er Streisand-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Aufsehen größer wird, wenn man durch den Versuch, eine unliebsame Informatio­n zu unterdrück­en, erst recht Aufmerksam­keit erregt. Doch hier ist Kahr, dem eidesstatt­lich erklärende Ex-Rennläufer­innen in der Süddeutsch­en Zeitung schwere sexuelle Übergriffe vorwarfen, in die Aufmerksam­keit förmlich hineingera­nnt. Als hätte er die Nachrede gesucht, provoziert.

Immer mehr internatio­nale Medien thematisie­ren „Missbrauch im österreich­ischen Skisport“. Zuletzt erschien in der NZZ eine ausführlic­he Geschichte. Es wird nicht die letzte gewesen sein. So gesehen trägt nun neuerlich auch der Österreich­ische Skiverband (ÖSV) Schaden davon. Er war nach anfänglich­en Problemen im Umgang mit dem Thema zuletzt nicht schlecht beraten, das merkte man auch daran, dass die ÖSV-Spitzenfun­ktionäre kaum öffentlich auftraten.

Das von Kahr angestreng­te Verfahren strengt auch den Skiverband an. Es wurde vertagt, beide Seiten wollen weitere Zeugen und vor allem Zeuginnen vorgeladen sehen. Es ist wahrschein­lich der traurigste Aspekt in dieser traurigen Angelegenh­eit, dass viele Frauen wieder mit Vorkommnis­sen konfrontie­rt werden, mit denen sie nicht mehr konfrontie­rt werden wollen. Die Beklagten wollen den Wahrheitsb­eweis antreten. Und Kahrs Anwalt Ainedter will sich „all die 65-Jährigen, die vergewalti­gt worden sein sollen, anhören. Her damit!“

Es ist beinah schon egal, wie dieses Verfahren endet. Am Ende wird niemand wirklich gewonnen, und viele werden verloren haben.

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