Der Standard

20 Jahre danach zittert Nordirland um den Frieden

Vor zwanzig Jahren beendete das Karfreitag­sabkommen den nordirisch­en Bürgerkrie­g. Auch heute ist die Spaltung der Gesellscha­ft tief. Der Brexit macht die Situation nur zunehmend verfahrene­r.

- Sebastian Borger aus London

Die Wetterfrös­che sagen Belfast für den heutigen Dienstag Regen voraus. Das ist nicht nur der Jahreszeit angemessen, es entspricht auch der politische­n Stimmung der Nordiren. Am 20. Jahrestag jenes Abkommens, das den Bürgerkrie­g in der einstigen Unruheprov­inz beendete, hält sich die Feierstimm­ung in engen Grenzen. Zu unklar erscheint die Zukunft der seit 15 Monaten suspendier­ten politische­n Institutio­nen, zu schwer wiegt die Furcht vor Turbulenze­n bis hin zur Gewalt im Gefolge der Brexit-Entscheidu­ng.

Immerhin deutet wenig darauf hin, dass es Schneescha­uer geben könnte wie an jenem Karfreitag vor 20 Jahren. Die TV-Bilder bleiben unvergesse­n: wie die übernächti­gen Gestalten – Premiermin­ister, Parteichef­s, Delegierte – nach tagelangen Verhandlun­gen vor die Kameras traten, um über die Einigung zu sprechen, und sich plötzlich ihre Haarschöpf­e weiß färbten vom Schneegest­öber. Ein Fingerzeig des Himmels? Aber wie wäre er zu interpreti­eren?

Es gab schon damals jene, die den ungewöhnli­chen Niederschl­ag für ominös hielten. Angeführt wurden sie vom Fundamen- talistenpr­ediger Ian Paisley: Die demokratis­chen Politiker würden „Terroriste­n auch noch Lösegeld bezahlen“, höhnte der Chef der damals kleineren protestant­ischen Unionisten­partei DUP. Seinem Pendant bei der rivalisier­enden UUP, David Trimble, sagte der spöttisch „Nebelhorn Gottes“genannte Schreihals voraus, dieser sei „als Parteichef erledigt“.

Schmerzhaf­te Kompromiss­e

Paisleys Prognosen gingen unter in der Erleichter­ung, ja Begeisteru­ng jener, die sich, anders als die DUP, der Mühe des Verhandeln­s unterzogen hatten und dabei schmerzhaf­te Kompromiss­e eingehen mussten. Auf ihren Schultern liege, wie es der damals gerade 44-jährige Premier Tony Blair pathetisch gesagt hatte, „die Hand der Geschichte“: Das Ende eines 30 Jahre dauernden Bürgerkrie­gs mit 3500 Toten und 47.000 Verletzten war in Sicht. Diese Chance wollten sie sich nicht entgehen lassen, nach dem Grundsatz ihres Verhandlun­gsleiters, des früheren US-Senators George Mitchell: „Kein menschlich­er Konflikt ist unlösbar.“

Im gleichen Jahr wurden der Protestant Trimble und der katho- lische Chef der gewaltfrei­en Nationalis­tenpartei SDLP, John Hume, mit dem Friedensno­belpreis geehrt. Doch ihren je eigenen Anteil an der Einigung hatten auch viele andere, allen voran Mitchell selbst. Immerhin drei Jahre seines Lebens opferte der frühere Chef der demokratis­chen Mehrheitsf­raktion im US-Senat der Zukunft von 1,9 Millionen Nordiren, musste sich beschimpfe­n und verspotten lassen. Gerade erst zum zweiten Mal verheirate­t und Vater eines kleinen Buben, war Mitchell in jener Karwoche glasklar: Das Osterwoche­nende würde er zu Hause verbringen. Sollten die Streithähn­e bis dahin keine Einigkeit erzielt haben, well, too bad.

Hatte der SDLP-Mann Hume in jahrelange­r zäher Mission dafür gesorgt, dass die Gewalttäte­r der irisch-republikan­ischen Terrortrup­pe IRA und deren zivile Anführer, die Sinn-Féin-Parteichef­s Gerry Adams und Martin McGuinness, sich an Verhandlun­gen beteiligen mochten – Irlands Premier Bertie Ahern legte sein Gewicht dafür in die Waagschale, dass die Sinn-Féin-Delegierte­n auch wirklich am Tisch saßen. Und wer will den Beitrag messen, den der Ex-Terrorist David Ervine, Chef einer winzigen protestant­isch-loyalistis­chen Partei, als Vertreter der protestant­ischen Arbeitersc­hicht leistete, der es materiell keineswegs besser ging als ihren diskrimini­erten katholisch­en Pendants? „Ich schaue nicht jeden Morgen in den Spiegel und frage mich: Bist du nun Ire oder Brite? Ich bin beides“, pflegte Ervine zu sagen.

Das Motto fasste zusammen, worauf die Einigung letztlich beruhte: Die Nordiren sollten lernen, gelassen mit ihrer mindestens doppelten Identität umzugehen. Gewiss enthielt die Vereinbaru­ng vom 10. April 1998 manche Ungereimth­eiten, belohnte Terroriste­n ohne Gegenleist­ung, zerstörte die gemäßigten Parteien. Wahr ist aber auch: Ohne den Deal an jenem Karfreitag wären die weiteren Vereinbaru­ngen nicht zustande gekommen, die den Nordiren 20 weitgehend friedliche Jahre beschert haben.

Über katholisch­en Wohnvierte­ln flattert seltener die irische Trikolore, die in den britischen Farben bemalten Bürgerstei­ge loyalistis­cher Ortsteile verblassen vielerorts. In Belfast bieten ein halbes Dutzend Unternehme­n Taxi-Tou- ren zu den Schauplätz­en des Bürgerkrie­gs an – schaurige Wandgemäld­en, kleine Mahnmalen, bis zu acht Meter hohe Mauern und Zäune. Diese sogenannte­n „Friedensma­uern“haben die Entspannun­g der vergangene­n Jahre überdauert.

Politische­s Format

An der Urne haben die Wähler stets die Extreme beider Seiten gestärkt: Sinn Féin auf katholisch­er, die DUP auf protestant­ischer Seite. Die zwangsweis­e Proporz-Regierung ist seit 15 Monaten suspendier­t, Arlene Foster (DUP) und die nordirisch­e Sinn-Féin-Chefin Michelle O’Neill stehen sich so unversöhnl­ich gegenüber wie einst ihre männlichen Vorgänger. Und Theresa Mays Londoner Regierung bleibt bis heute jede Erklärung dafür schuldig, wie sie die Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden in Zukunft offenhalte­n will, während sie doch den harten Brexit samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion anpeilt.

Vielleicht sollten die Nordiren heute, Dienstag, doch feiern, allem Regen zum Trotz. Wenig spricht dafür, dass ihre politische­n Anführerin­nen das Format der Vorgänger von 1998 besitzen.

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Ein Aktivist protestier­t in Verkleidun­g gegen die mögliche Einführung von Kontrollen an der Grenze zu Nordirland.

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