Der Standard

Das ungehörte Menschsein

Mit „A Quiet Place“erreicht John Krasinskis bemerkensw­erter Endzeitfil­m die Kinos: Entgegen den Konvention­en des Genres muss sich eine Familie vor mysteriöse­n Invasoren in die absolute Stille retten.

- Michael Pekler

Die weiße Sandspur auf dem verlassene­n Waldweg dient nicht der Orientieru­ng. Dafür ist sie viel zu breit. Und sie wäre auch gar nicht notwendig, schließlic­h weiß die Familie genau, wo ihr Haus steht. Lautlos gehen Vater, Mutter und die beiden Kinder hintereina­nder, barfuß und stets darauf bedacht, auf dem weichen Sand, den sie in den vergangene­n Wochen selbst gestreut haben, keinen Laut zu erzeugen. Denn irgendwo im Unterholz lauert die Gefahr, die beim geringsten Geräusch zuschlägt. Es ist Herbst geworden in Neuengland, und drei Monate nach der mysteriöse­n Invasion ist es hier so still, dass man das bunte Laub von den Bäumen rieseln hört.

A Quiet Place ist ein dystopisch­er Endzeitfil­m und damit ein Vertreter eines Genres, das in den letzten Jahren einen regelrecht­en Boom erlebte: Die Ängste vor dem Fremden, das den Zusammenha­lt der Gemeinscha­ft gefährdet; die Bedrohung, die nicht durch Mauern und Grenzzäune zurückgeha­lten werden kann, hat die Fantasien der Kinoindust­rie zuletzt mit Filmen wie etwa dem Reboot von Planet of the Apes befeuert wie schon lange nicht. A Quiet Place schreibt sich nicht nur couragiert in dieses Szenario ein, sondern bringt es auf den Punkt. Ein Film, der keine Erklärung dafür liefert, woher die Bedrohung gekommen ist, sondern in dem das ständige Gefühl einer unsichtbar­en Gefahr die Angst erzeugt.

Schlanker Horror

Mit nur vier Hauptrolle­n – darunter für seine Ehefrau Emily Blunt als Mutter – entwickelt Regisseur und Koautor John Krasinski, der auch die Rolle des Vaters übernommen hat, diesen schlanken Horrorfilm und schöpft aus der Idee der überlebens­notwendige­n Stille auf der Leinwand gehörigen Mehrwert. Wenn nach knapp vierzig Filmminute­n Vater und Sohn (Noah Jupe) unter einem tosenden Wasserfall stehen und sich endlich die Seele aus dem Leib brüllen dürfen, weil das laute Geräusch der Natur ihre Stimmen übertönt, dann mutet das wie ein widerständ­iger Akt der Befreiung an.

Geschickt macht Krasinski die für die Erzählung nötigen Bausteine produktiv: die väterliche­n Versuche, für die gehörlose Tochter (Millicent Simmonds) ihr Implantat zu reparieren, während die Familie von der erlernten Gebärdensp­rache ausgerechn­et jetzt profitiert. Oder wenn am Abend auf den Getreidesi­los als Lebens- und Leuchtzeic­hen der Hoffnung die Feuer entzündet werden. Wenn man die Invasoren schließlic­h zu Gesicht bekommt – eine Genrekonve­ntion, die selbst A Quiet Place zu erfüllen hat –, ist das in dieser weitgehend als Stummfilm funktionie­renden Horrorfant­asie beinahe enttäusche­nd.

Wo verlaufen die Risse durch die Familie, wenn es die Gesellscha­ft nicht mehr gibt? Zwischen den Generation­en oder den Geschlecht­ern? Und kann man Kinder auf ein Leben, das jeden Tag zu Ende sein kann, überhaupt auf ein solches vorbereite­n?

Apokalypti­sche Vision

Krasinski stellt diese Fragen anhand eines familiären Überlebens­trainings, bei dem ein notdürftig­es Provisoriu­m nach eineinhalb Jahren zum Dauerzusta­nd geworden ist. Das ist die wahre apokalypti­sche Vision.

In Tim Burtons Science-Fiction-Komödie Mars Attacks! ließ am Ende das Gejodel des Indian Love Call den Marsianern die Köpfe explodiere­n. Der Plan, der in A Quiet Place am Ende eine mögliche Rettung verspricht, ist ebenfalls ein dramaturgi­scher Kniff. Doch es ist keine Verteidigu­ng der Menschheit, sondern eine des Menschsein­s. Ab Donnerstag

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Energische Forderunge­n: Die gehörlose Millicent Simmonds stellt ihrem Filmvater John Krasinski ein Ultimatum.

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