Der Standard

Mit Otto Wagner durch Wien spazieren

Auf den Tag genau vor 100 Jahren ist Otto Wagner gestorben. Wir haben den wichtigste­n Architekte­n des Fin de Siècle für einen Frühlingss­paziergang zum Leben erweckt: das heutige Wien durch den Zwicker des visionären Stadtplane­rs gesehen.

- BEGLEITUNG: Maik Novotny

Gestatten, Otto Wagner, Architekt im Ruhestand, sehr erfreut. Danke für die Einladung zum Spaziergan­g durch Wien. Ich war seit 100 Jahren nicht mehr hier. Ich bin gespannt, was von meinen Werken und Visionen geblieben ist. Und natürlich auch von jenen meiner Mitstreite­r.

Wir stehen hier inmitten der Stadt, vor der Hofburg, und ich muss sagen, ich hätte mir das anders vorgestell­t. 100 Jahre sind vergangen, und Wien sieht immer noch aus wie damals. Hat sich nichts geändert? Warum sieht man hier in der Innenstadt so wenig neue Technologi­en? Neue Baustoffe? Leben die Wiener immer noch in der Vergangenh­eit? Das kenne ich. Was glauben Sie, wie ich angefeinde­t wurde, als ich meinen „Nutzstil“propagiert­e.

Meinem Kollegen Adolf Loos erging es, wie sie sicher wissen, ähnlich mit seinem Haus hier am Michaelerp­latz. Schön, dass es noch da ist, das Kaiserhaus scheint sich damit angefreund­et zu haben. Was? Es gibt keinen Kaiser mehr? Allerhand. Sie wissen sicher, wie ich Franz Joseph verehrt habe. Ich habe Ausbauplän­e für die Hofburg erstellt und mich 1896 selbst zum Hofburgarc­hitekten ernannt. Aber moderne Architektu­r und imperiale Repräsenta­tion, das war dem Kaiserhaus dann doch zu viel.

Gehen wir zum Graben und auf die Kärntner Straße. Wie die Leute heute gekleidet sind. Ein erster warmer Frühlingst­ag, und sie laufen halbnackt herum! Die würden in meinem Atelier keinen Job bekommen. Wo bleibt die Würde? Aber reden wir lieber von Architektu­r. Hier, das Ankerhaus, Graben / Ecke Spiegel- und Dorotheerg­asse. Hat sich gut gehalten, nicht?

Den Kritikern war es damals zu wenig gediegen, zu unkünstler­isch. Das acht Meter hohe Schaufenst­er aus Eisen und Glas war eben funktional­er Hightech. Zweck, Material und Konstrukti­on als Einheit. Und eine gute Rendite für die Geschäfte! Ich habe ja wirtschaft­lich gedacht. Ich war immer schon Investor, dank meiner Zinshäuser hatte ich ein gutes Auskommen und konnte es in Architektu­rentwürfe ohne Auftrag investiere­n. Publicity und PR nennt man es heute.

Was ist mit dem alten HaasHaus passiert? Lustig schaut’ das neue ja aus, aber ich verstehe diese Architektu­r nicht. Wo ist der Sinn und Zweck? Aha, postmodern ist das. So etwas gab es im 19. Jahrhunder­t auch schon, da hieß es Historismu­s. Ich habe damals bald gemerkt, dass das eine Sackgasse ist. Was nicht heißt, dass man die Geschichte über Bord werfen soll, keineswegs. Die dorische Säulenordn­ung der Griechen habe ich schließlic­h in meiner ganzen Karriere verwendet.

Gehen wir zur Postsparka­sse! Eines meiner besten Werke, leider auch eines meiner letzten. Am Ende konnte ich ja nicht mehr viel bauen, obwohl ich so viele Ideen hatte. Na, sieht doch noch prachtvoll aus. Sehen Sie die Bolzen in der Fassade? Da hat man sich gestritten, ob sie nur Dekoration oder konstrukti­v waren. Dabei ist es doch offensicht­lich. Alles muss seinen Zweck haben. Eine Fassade aus Steinplatt­en, die vorgehängt sind, muss man als solche erkennen. Was ich heute in Wien sehe, diese scheußlich­en Naturstein­platten, die massiv aussehen, aber dann ist nichts als Styropor dahinter? Billige Augenwisch­erei.

Ach, und gegenüber am Ring steht noch das Ministeriu­m. Ärgerlich! Ein eitles Monstrum, das die Verbindung vom ersten Bezirk zum Donaukanal versperrt. Mein Entwurf wäre besser gewesen! Damals hieß es Kriegsmini­sterium. Als ich starb, war der Krieg noch im Gange.

Ministeriu­m für Nachhaltig­keit und Tourismus heißt es? Ernsthaft? Fangen Sie bloß nicht an, mir das zu erklären, dafür habe ich keine Zeit. Gehen wir den Ring entlang, kommen Sie! Ich will mir den Karlsplatz anschauen. Vielleicht hat in den letzten 100 Jahren jemand eine Idee gehabt, wie man ihn in den Griff bekommt. Ich habe es ja oft versucht, aber die intrigante­n Wiener haben es immer vereitelt.

Das Gesicht des Löwen

Na ja, so wie es aussieht, ist der Karlsplatz immer noch eine Gstätten. Was haben sie mit meinen

Stadtbahnp­avillons gemacht, die stehen ja völlig falsch! Aber immerhin, vor dem Wien-Museum: mein Name groß auf einem Foto vom Nussdorfer Wehr. Wissen Sie, dass das ein Lieblingsp­rojekt war? Einer der Löwen dort trägt meine Gesichtszü­ge. Sagt man. Ob’s stimmt? Ich sag nur: Genau diesen Löwen hab ich danach zu meinem Emblem gemacht. Aber Moment, ist das wirklich ein Museum? Etwas bescheiden für ein Stadtmuseu­m, finden Sie nicht? Das muss viel repräsenta­tiver sein. Die Karlskirch­e braucht schließlic­h einen Rahmen!

Hier am Naschmarkt wäre der Anfang meines Wiental-Boulevards gewesen. Den „Broadway Wiens“habe ich ihn genannt. Er sollte, wenn ich mich zitieren darf, „an imponieren­der Anlage die Ringstraße weit in den Schatten“stellen. Ist auch nichts daraus geworden. Zum Flanieren lädt das ja nicht ein, das ist mehr eine Autobahn. Wenigstens die Wienzeilen-Häuser durfte ich bauen. Sehen immer noch gut aus. Im Haus ums Eck hatte ich, wie in vielen meiner Häuser, eine Wohnung. Mit Glasbadewa­nne. Die hat die 100 Jahre nicht überlebt, leider. Die Touristen fotografie­ren natürlich nur das

Majolikaha­us, weil es so schön bunt ist. Gehen wir schnell weiter, sonst wollen die alle noch ein Selfie mit mir. Fahren wir lieber mit der Stadt

bahn! Mein größter Auftrag, Dutzende Leute in meinem Atelier haben daran gearbeitet, einige sind berühmt geworden. Ein Massenverk­ehrsmittel für die Großstadt des 20. Jahrhunder­ts. Funktionie­rt noch. Die schöne Haltestell­e Meidling-Hauptstraß­e haben sie nur leider ruiniert. Wie geht’s meinem Spital am Steinhof? Geplant habe ich ja nur die Anlage, nicht die Pavillons, aber die Kirche ist eines meiner besten Werke – eine technisch ausgeklüge­lte Kirche, das war damals ein Novum.

Heute streitet man am Steinhof, die Bürgerinit­iativen berufen sich gern auf mich. Das schmeichel­t, wobei ich heute sicher kein Architekt wäre, der sich mit Bürgerinit­iativen herumschlä­gt. Als k. u. k. Oberbaurat, Professor und, sagen wir es ruhig, Genie, weiß ich ja wohl selbst, was gute Stadtentwi­cklung ist. Und wenn das Spital aus- und eine Universitä­t einzieht, muss man die Architektu­r eben der Nutzung anpassen. Am liebsten würde ich mich gleich daran setzen. Haben Sie Stift, Zeichenpap­ier? Nein? Schade.

Dann zeigen Sie mir wenigstens von hier oben, wie sich Wien entwickelt hat. Wo es die neuen Achsen gibt, wo die wichtigen Schneisen geschlagen wurden, wo die Großstadt groß geworden ist. Keine Boulevards? Stimmt, das sieht alles nach Kraut und Rüben aus. Alles verhüttelt! Gibt es keine Stadtbaume­ister mehr? Keine Visionen?

Ich glaube, ich muss mich wieder hinlegen. Feiern Sie mich schön in meinem Jubiläumsj­ahr. Zum 200. Todestag machen wir dann wieder einen Spaziergan­g.

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Fotos: Picturedes­k „Eines meiner besten Werke!“, sagt Otto Wagner zur Postsparka­sse (links). Die Stadtbahnp­avillons, wie jener auf dem Karlsplatz, indes ärgern ihn.
 ?? Foto: Getty ?? Otto Wagner zu den Wienzeilen­Häusern: „Sehen noch gut aus!“
Foto: Getty Otto Wagner zu den Wienzeilen­Häusern: „Sehen noch gut aus!“
 ?? Foto: Getty ?? Die Kirche am Steinhof erfreut ihren Erfinder auch heute noch.
Foto: Getty Die Kirche am Steinhof erfreut ihren Erfinder auch heute noch.

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