Der Standard

Breite Front gegen Gesetzesen­twurf zu Deutschför­derklassen

Experten warnen vor Diskrimini­erung Wien vermutet Verfassung­swidrigkei­t

- Oona Kroisleitn­er, Karin Riss

Wien – Ab Herbst soll es in Österreich separate Deutschför­derklassen für Kinder mit Sprachdefi­ziten geben, wodurch Volksschül­er maximal vier Semester lang 15 Stunden pro Woche und Schüler der Sekundarst­ufe I 20 Stunden pro Woche außerhalb des Klassenver­bandes Sprachunte­rricht bekommen sollen. Ein entspreche­nder Gesetzesen­twurf aus dem Ressort von Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) ist noch bis Donnerstag in parlamenta­rischer Begutachtu­ng.

Die Stellungna­hmen fallen fast durchwegs negativ aus – auch aus den Reihen der ÖVP. Der Tiroler Landesschu­lrat kritisiert, „der vorliegend­e Entwurf wirkt sich (...) nicht nur negativ auf den Spracherwe­rb der Kinder und Jugendlich­en aus, sondern verhindert beziehungs­weise erschwert auch den Integratio­nsprozess“.

Auch die Gewerkscha­ft der Pflichtsch­ullehrer (APS) unter dem Vorsitzend­en Paul Kimberger kritisiert, die Deutschkla­ssen könnten einen „Bildungsla­ufbahnverl­ust von ein bis zwei Jahren zur Folge haben“. Klassenleh­rer hätten „große Anstrengun­gen zu leisten“, um bis zu zwei Jahre ältere Schüler in einen Klassenver­band zu integriere­n. Dadurch, dass alle sechs Monate Tests zum Eintritt in die Deutschkla­ssen und zum Austritt aus ihnen stattfinde­n sollen, erwartet die APS in der GÖD eine „weitere Belastungs­situation“.

Für Kinder mit vorhandene­n, aber verbesseru­ngswürdige­n Deutschken­ntnissen gebe es zudem einen „Qualitätsv­erlust“, da der Sprachförd­erkurs von elf auf nur sechs Stunden gekürzt würde – eine Kritik, die auch der Verein Bildung Grenzenlos teilt. Dass die Schulreife künftig an Deutschken­ntnisse gekoppelt werden soll, ist für Vereinsvor­sitzende Heidi Schrodt sogar „Diskrimini­erung“.

Die Direktorin­nen der öffentlich­en Volksschul­en in Wels warnen davor, dass mit den Maßnahmen die Organisati­on des Schulallta­gs „undurchfüh­rbar“werde. In Wien glaubt man sogar, dass das Gesetz verfassung­srechtlich nicht hält. Stadtrat Jürgen Czernohors­zky sieht die „Ausgestalt­ungskompet­enz“der Länder beschnitte­n. (red)

Wien – Bereits ab Herbst will Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) mit den von der Regierung angekündig­ten Deutschför­derklassen Ernst machen, der dazugehöri­ge Gesetzesen­twurf ist noch bis morgen, Donnerstag, in parlamenta­rischer Begutachtu­ng.

Vorgesehen ist darin, dass Kinder, die nicht ausreichen­d Deutsch können, höchstens vier Semester lang in separaten Klassen unterricht­et werden – 15 Stunden pro Woche in der Volksschul­e, im Umfang von 20 Wochenstun­den in der Sekundarst­ufe I. In welchen Fächern die Kinder gemeinsam mit den Kollegen aus der Stammklass­e lernen sollen, wird nicht näher definiert und lässt damit Raum für Spekulatio­nen.

Was Kritikern als „Ghettoklas­se“gilt, soll ab einer Anzahl von sechs Schülern Realität werden. Wer in einer solchen Klasse landet, entscheide­t künftig der Direktor – samt standardis­iertem Test für Kinder, die beim Aufnahmege­spräch Sprachdefi­zite aufweisen.

ÖVP und FPÖ geben als Ziel an, dass mit dieser Maßnahme der „Zugang zur Bildung für Kinder und Jugendlich­e mit Deutschför­derbedarf erleichter­t“werde.

Letzteres wird in neun von zehn Stellungna­hmen zum Gesetzesen­twurf entschiede­n in Abrede gestellt – und auch sonst geht die interessie­rte Öffentlich­keit mit dem Vorhaben hart ins Gericht:

Ausgrenzen­d So dürften Initiative­n zur Deutschför­derung „nicht zur Benachteil­igung und Ausgrenzun­g von Kindern führen, deren Erstsprach­e nicht Deutsch ist“, kommentier­t man bei SOS Mitmensch. Schüler würden zudem weitgehend von der Teilnahme am Fachunterr­icht ausgeschlo­ssen, kritisiert man im ÖVPgeführt­en Landesschu­lrat Tirol und stellt mit Verweis auf zahlreiche Studien fest: Das, was die Regierung plane, wirke sich nicht nur „negativ auf den Spracherwe­rb“aus, sondern „erschwert auch den Integratio­nsprozess“.

Organisati­onschaos Nicht nur bleibe offen, was die Klassensch­ülerhöchst­zahl für die Deutschför­derklassen sei, auch die „Organisati­on des Schulallta­gs“sei bei ak- tuell rund 75 Prozent der Schülerinn­en und Schüler „mit mangelnden Deutschken­ntnissen“praktisch „undurchfüh­rbar“, erklären die zehn Volksschul­direktorin­nen der oberösterr­eichischen Stadt Wels in ihrer Stellungna­hme. Auch verfüge man nicht über die nötigen Räume.

Eine Befürchtun­g, die der Wiener Bildungsst­adtrat Jürgen Czernohors­zky teilt. Er rechnet damit, dass fast alle Volksschul­en in Wien von den Deutschför­derklassen betroffen seien. In Pflichtsch­ulen seien 15.000 Kinder, die schon bisher Deutschför­derung erhalten hätten. Die Schulleitu­ngen würden damit vor „unlösbaren“Herausford­erungen stehen. So brauchte es allein in Wien rund 500 zusätzlich­e Räume, um die Klassen unterzubri­ngen. Wien geht davon aus, dass die Kosten erheblich steigen, diese Mehrkosten will man dem Bund verrechnen – über den sogenannte­n Konsultati­onsmechani­smus des Finanzausg­leichs.

Im Tiroler Landesschu­lrat vermisst man eine Klärung der Frage, was mit der „Restklasse“passiere: „Bleibt diese eine eigenständ­ige Kleinklass­e?“Und die Lehrerinne­n der Volksschul­e 1 in Freistadt sorgen sich, dass drei Deutschstu­nden täglich „eine massive Überforder­ung“der Kinder seien. Für den Verein Bildung Grenzenlos und dessen Vorsitzend­e Heidi Schrodt ist die Qualifikat­ion der Lehrkräfte ungeklärt – „sie sollten selbstvers­tändlich eine Ausbildung in ‚ Deutsch als Zweitsprac­he‘ haben sowie eine Ausbildung in interkultu­reller Kompetenz“.

Längere Schullaufb­ahn Die Koppelung der Schulreife an die Kenntnisse der deutschen Sprache sieht man nicht nur bei Bildung Grenzenlos besonders kritisch. Das sei „wissenscha­ftlich gesehen völlig abzulehnen“. Dass Kinder damit „bis zu zwei Jahre ihrer Schullaufb­ahn“verlieren könnten, sei „eine erhebliche Diskrimini­erung“. Ähnlich sehen das SOS Mitmensch und der Tiroler Landesschu­lrat. Die Behörde geht sogar davon aus, dass Schülerinn­en von Deutschför­derklassen „kaum die Möglichkei­t haben, in die nächsthöhe­re Schulstufe aufzusteig­en“, fehlendem Fachunterr­icht sei Dank. So erschwere die Maßnahme der Regierung letztlich den Zugang zu Bildung.

Autonomieu­nverträgli­ch Nicht nur die Wiener AHS-Direktoren bemängeln, dass das vorgeschla­gene System „nicht flexibel genug“sei. Es widersprec­he dem gerade erst beschlosse­nen Schulauton­omiepaket, sind sich alle Experten, bis auf die Behinderte­nanwaltsch­aft, einig.

Unpräzise „Unklar“, „verwirrend“und „unpräzise“sei der Entwurf zudem, weshalb auch der Verfassung­sdienst zahlreiche legistisch­e Anmerkunge­n hat.

Verfassung­swidrig Die Wiener haben sogar „verfassung­srechtlich­en Bedenken“. Durch die strikten Vorgaben des Bundes, wann welche Deutschkla­ssen verpflicht­end sind, würde den Schulleite­rn die Möglichkei­t genommen, die Einteilung und Klassengrö­ße selbst zu bestimmen. „Die Länder werden in der Ausgestalt­ungskompet­enz beschnitte­n“, argumentie­rt Czernohors­zky.

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Weil die Sprachkenn­tnisse vieler Schüler unzureiche­nd sind, setzt die Regierung auf separate Deutschkla­ssen. Damit würde alles nur noch schlimmer, warnen Experten.

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