Der Standard

Ein Hauch von Mai ’68 in Paris

An der Sorbonne und anderen französisc­hen Unis gärt es. Etliche Fakultäten sind besetzt. Studenten kämpfen auch gegen Präsident Macron und seine liberale Politik.

- Stefan Brändle aus Paris

1968 war die Studentenb­ewegung von politische­n Fragen getrieben. Die aktuellen Proteste wollen an den Geist von damals anschließe­n. Noch weht keine rote Fahne auf der Kuppel der altehrwürd­igen Sorbonne. Die Behörden haben das Hauptporta­l sicherheit­shalber gesperrt. Wer die Cour d’honneur (Ehrenhof) der 1257 gegründete­n Uni dennoch betreten will, muss sich an einem kleinen Seiteneing­ang einer peinlich genauen Identitäts- und Taschenkon­trolle durch Uniformier­te unterziehe­n.

Die Absicht der Direktion ist klar: Die Geschichte soll sich nicht wiederhole­n. In wenigen Tagen wird es fünfzig Jahre her sein, dass Studenten wie Daniel Cohn-Bendit von der ausgelager­ten Uni Nanterre kommend die Sorbonne in Paris besetzten. Ab dem 3. Mai 1968 machten die Studenten hier das ganze Quartier Latin unsicher. Am 10. Mai organisier­ten sie die „Nacht der Barrikaden“. Dann hielten sie der Polizei noch fast einen Monat stand. Noch im Juni, als die Sorbonne „gefallen“war, gelang es der Feuerwehr lange nicht, die rote Fahne der Revolte von der Kuppelspit­ze zu holen.

Keine Wiederholu­ng

Jetzt erzählt ein Hauswart in der Rue de la Sorbonne, die CRS-Bereitscha­ftspolizei patrouilli­ere hier rund um die Uhr. „Die überwachen die strategisc­hen Punkte des Quartier Latin seit Tagen sehr diskret, aber genau, auch nachts.“

Sie haben allen Grund dazu. Ein Dutzend Universitä­ten in Frankreich sind schon besetzt. So auch ein Annex der Sorbonne in der Rute Tolbiac, südlich des Quartier Latin. Hier ist die Lage umgekehrt: Die Polizei kommt nicht mehr in die geisteswis­senschaftl­iche Fakultät hinein. Die Besetzer haben den Eingang mit Tischen und Stühlen verbarrika­diert. Bei den Kaffeemasc­hinen kochen sie, im größten Hörsaal N schlafen sie. An den Wänden hängen Sprüche wie „Die Kapitalist­en kosten zu viel“. Oder detaillier­te Bauanleitu­ngen für Molotowcoc­ktails.

Sorbonne-Direktor Georges Haddad verzichtet auf eine polizeilic­he Räumung, um Schaden an Leib und Leben zu vermeiden. Der Protest richtet sich auch gegen das neue, unter Präsident Emmanuel Macron in Kraft gesetzte Einschreib­verfahren namens Parcoursup. Es verschärfe die Selektion, monieren linke Organisati­onen und Parteien. „Unser Widerstand geht aber darüber hinaus“, meint Irène, eine 21-jährige Geschichts­studentin. „Wir kämpfen auch gegen die ständig steigenden Studiengeb­ühren. Sie führen wie in den USA, aber auf schleichen­de Art, zur Bildung von Eliteunis, die sich nur noch die Reichen leisten können“, fügt die vermummte Besetzerin an. Dann lässt sie ihrer Wut freien Lauf: „Vor allem kämpfen wir gegen Macron und seine liberale Politik. Die ist rein geldbezoge­n und zerstört den Service Public.“

Solidaritä­t mit Arbeitern

Ähnlich tönt es im Hörsaal L. Dort präsentier­t der Soziologie­student David gerade ein paar breitschul­trige Gewerkscha­fter von Geodis, dem Logistikun­ternehmen der streikende­n Staatsbahn SNCF. Der CGT-Vertreter Mouloud erzählt, dass ein Arbeiter im Werk Gennevilli­ers (nördlich von Paris) jeden Tag 80 Lastwagen entlade und bis zu zwölf Tonnen Früch- te und Gemüse herumschle­ppe. „Nicht einmal unser Dienstälte­ster, seit 44 Jahren im Betrieb, hat jemals eine individuel­le Gehaltserh­öhung erhalten. Sein Rücken ist längst im Eimer.“

David informiert die 30 Anwesenden, warum er Geodis eingeladen habe: „Wenn es gelingt, dieses Unternehme­n zu blockieren, sind in wenigen Tagen sämtliche Supermärkt­e im Großraum Paris leer. Das ist viel wirkungsvo­ller als Straßenblo­ckaden.“In einer Pause erzählt ein Mann mit weißem Stoppelbar­t, wie sich die Studenten im Mai 1968 mit den RenaultArb­eitern solidarisi­ert hätten; zehn Millionen seien damals in den Generalstr­eik getreten und hätten der Regierung in Paris weitreiche­nde Sozialgese­tze abgerungen.

Reif für die Revolte

Könnte sich die Geschichte vielleicht doch wiederhole­n? Gaston, ein freundlich­er Mützenträg­er, liest zwar gerade eine zerfledder­te Ausgabe von Guy Debords 68erKlassi­ker Die Gesellscha­ft des Spektakels, antwortet aber eindeutig: „Machen wir uns nichts vor, Mai ’68 ist gescheiter­t.“Gerade halb so alt wie jener glorreiche Maimonat, erklärt Gaston, der natürlich nicht Gaston heißt, sondern als guter Anarcho einen falschen Vornamen angibt: „Daniel Cohn-Bendit ist heute ein Freund Macrons. Wenn du ihm sagst, man müsse in Frankreich Feuer legen, wiegelt er ab, man könne doch nicht alles in Schutt und Asche legen. Ich finde, wir müssen uns zuerst einmal darauf konzentrie­ren, ein richti- ges Feuer zu legen, bevor wir an das Nachher denken!“

Noch fliegen in Paris nicht einmal die Pflasterst­eine. Die Masse der Studenten denkt eher an die nahenden Prüfungen zum Semestersc­hluss. Nur ein Dutzend Unis im Land sind ganz oder teilweise blockiert. Die Folgen halten sich dank Internet in Grenzen: Die Rektoren halten Kurse und, wenn möglich, auch die Examen online ab. Vor allem scheint Frankreich generell nicht reif für die Revolte – sondern eher für Reformen Macron’scher Art.

Landesweit­e Streiks

Trotzdem reagiert der Präsident nervös: Die blockierte Uni Nanterre – einen wichtigen Schauplatz des Mai ’68 – ließ er diese Woche polizeilic­h räumen. Über die Hochschule­n hinaus mehren sich die Streiks in immer mehr Branchen. Premiermin­ister Édouard Philippe beschwicht­igt, die Anliegen der Studenten und der Krankensch­western seien so unterschie­dlich wie die der Bahnarbeit­er und der Air-France-Angestellt­en. Er sehe keine „convergenc­e“– ein Begriff, mit dem 1968 die zusammenfl­ießenden Kräfte des Generalstr­eiks umschriebe­n wurde.

Der Widerstand gegen Macrons resolute Reformpoli­tik wächst dennoch. Wenn der Funke auf alle Universitä­ten übergreife­n und sich mit den – bis in den Juni angesetzte­n – Protesten der Eisenbahne­r mischen sollte, käme der Staatschef im Élysée-Palast unter massiven Druck. Vielleicht denkt Macron schon an seinen illustren Vorgänger Charles de Gaulle: Der musste weniger als ein Jahr nach 1968 seinen Hut nehmen.

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