Der Standard

Krebszelle­n beim Sterben zusehen

Wo sind Krebszelle­n verwundbar? Und wie kann man sie mit Wirkstoffe­n abtöten? Antworten auf solch grundlegen­de Fragen gibt eine neue und revolution­äre Technologi­e. Entwickelt wurde sie in Wien.

- Robert Czepel

Ziemlich genau 15 Jahre ist es mittlerwei­le her, dass Genetiker das Erbgut des Menschen sequenzier­t haben. Angesichts all der genetische­n Daten, die seitdem angehäuft wurden, könnte man erwarten, dass der menschlich­e Körper längst ein gläserner ist: durchleuch­tet bis ins molekulare Detail. Doch das ist nicht der Fall.

Warum sich eine Zelle zum Neuron und eine andere zur Blutzelle entwickelt, ist bis heute nicht hinreichen­d verstanden. Das liegt vor allem daran, dass die DNA im Grunde bloß das „Backup“genetische­r Informatio­n ist, eine Bibliothek, die erst dann Wirkung entfaltet, wenn sie auch gelesen wird. Ihre Identität erhalten Zellen erst durch das Ein- und Abschalten von Genen. „Einschalte­n“bedeutet: Das Gen wird in RNA übersetzt und in weiterer Folge in ein Protein. Erst wenn das geschehen ist, werden all die Signalwege aktiv, die Zellen zu dem machen, was sie sind. Dieser Vorgang, sagt Johannes Zuber vom Wiener Institut für Molekulare Pathologie (IMP), „ist die Essenz des Lebens“.

Zuber hat kürzlich mit seinem Kollegen Stefan Ameres vom Institut für Molekulare Biotechnol­ogie (IMBA) eine neue Methode vorgestell­t, mit der man die Entwicklun­g der Zellidenti­tät erstmals nachvollzi­ehen kann. Die neue Technologi­e namens SlamSeq bestimmt anhand der RNA-Profile detailgetr­eu, welche Gene aktiv sind. Darüber wachen in gesunden Zellen sogenannte Regulatorg­ene. Ihre Aufgabe ist es, das Konzert der anderen Gene zu dirigieren. Fehlt diese Kontrolle, läuft die Sache schnell aus dem Ruder. Zu beobachten ist das etwa an Krebszelle­n: Dort sind die Dirigenten des Erbguts häufig mutiert – die aus der Medizin bekannten Krebsgene sind in den meisten Fällen Regulatorg­ene.

Das Chaos im Tumor

Unklar war bisher, warum dann so schnell Chaos ausbricht und der Tumor unkontroll­iert zu wachsen beginnt. „Was regulieren diese Gene wirklich? Diese Frage konnte die Wissenscha­ft bisher nicht beantworte­n“, sagt Zuber. Das lag freilich nicht am fehlenden Interesse der Molekularb­iologen. Es fehlte schlichtwe­g an den geeigneten Methoden. Diese Lücke füllt nun Slam-Seq: Mithilfe der neuen Technologi­e – sie wurde von Ameres entwickelt, wurde bereits im Vorjahr im Fachblatt Na

ture Methods präsentier­t und ist für den hochdotier­ten Houskaprei­s 2018 nominiert – können die Forscher den Regulatorg­enen zusehen, wo und wann sie die Übersetzun­g von DNA in RNA steuern. Im gesunden Zustand ebenso wie bei kranken und sterbenden Zellen. Nach der Revolution der Gensequenz­ierung zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts tritt die Molekularb­iologie nun in eine neue Ära: Das regulatori­sche Netzwerk der Gene wird sichtbar.

Wie das geht, haben Ameres und Zuber kürzlich im Fachblatt Science vorgezeigt. Für ihre Studie hatten die Forscher zwei prominente Krebsgene, MYC und BRD4, unter die Lupe genommen und nachgewies­en, wie weit der Einfluss der beiden Regulatore­n tatsächlic­h reicht. Das Resultat war überrasche­nd. Entgegen bisheriger Vermutunge­n aktiviert MYC nur etwa 500 Gene, vor allem solche, die mit grundlegen­den Aufgaben des Zellhausha­lts betraut sind. Das ist der Grund dafür, dass Mutationen in MYC so gefährlich sind: Sind DNA- oder Eiweißsynt­hese überaktiv, ist der Weg zur Entartung der Zelle nicht mehr weit.

Anders das Ergebnis bei BRD4: Dieser Regulator wirkt in einem höheren Stockwerk der genetische­n Hierarchie und eignet sich viel besser als Ansatzstel­le für Krebsmedik­amente. Letzteres war zwar schon früher bekannt, nur verstehen die Forscher jetzt auch, warum das so ist. Und sie können mithilfe der RNA-Profile bestimmen, welche Wirkstoffk­ombination­en Krebszelle­n töten und die gesunden Zellen am Leben lassen – ein Ansatz, der auch bei ganz anderen Medikament­entypen, etwa aus dem Immunund Hormonbere­ich, neue Einsichten bringen könnte. Slam-Seq sei daher für zwei ganz unterschie­dliche Gebiete interessan­t, sagt Stefan Ameres, für die Grundlagen­forschung ebenso wie für die klinische Medizin: „Das Feedback ist sehr positiv.“

Zufallsbek­anntschaft

Zuspruch gab es auch hierzuland­e. Der Pharmakonz­ern Boehringer-Ingelheim, Shareholde­r des IMP, verwendet die Methode bei der Untersuchu­ng von Wirkstoffe­n in den hauseigene­n Labors. Und die in Gehweite von IMP und IMBA angesiedel­te Firma Lexogen hat die Methode bereits zu einem Laborkit weiterentw­ickelt, der sich seit letztem Jahr auf dem Markt befindet.

Kennengele­rnt haben einander Ameres und Zuber vor Jahren in den USA, in einer Bar auf dem Campus des Cold Spring Harbor Laboratory. Damals standen die beiden noch ganz am Beginn ihrer Karriere, der eine als RNA-Biologe, der andere als Krebsforsc­her. Zuber war der Erste, der in Wien die Leitung einer Forschungs­gruppe übernahm. Als am nebenan gelegenen IMBA ein RNA-Spezialist gesucht wurde, riet Zuber seinem ehemaligen Postdoc-Kollegen: „Bewirb dich doch!“Ameres tat es – und kehrte wider Erwarten an jenen Ort zurück, wo er einst seinen Doktor gemacht hatte.

Dass aus der Erfindung im Labor so schnell ein marktfähig­es Produkt geworden ist, zeigt jedenfalls: Der Forschungs­cluster rund um das Vienna Biocenter hat bereits jene kritische Masse erreicht, die für hochkaräti­ge Wissenscha­ft jenseits disziplinä­rer Grenzen notwendig ist. So breit aufgestell­t wie der Großraum Boston ist Wien zwar noch nicht, aber in ausgewählt­en Bereichen mischt man durchaus an der Weltspitze mit. „Momentan haben wir gegenüber der internatio­nalen Konkurrenz einen Vorsprung“, sagt Ameres. „Und den müssen wir nützen.“Der Vorsprung könnte nicht zuletzt auch finanziell einträglic­h sein. Die Slam-Seq-Technologi­e wurde bereits in Europa und Amerika als Patent angemeldet.

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Krebsgenen auf der Spur: Mit einer neuen Technologi­e lassen sich Prozesse in der Zelle so detaillier­t beobachten wie nie zuvor.

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