Der Standard

SS-Enkelin trifft Shoah-Überlebend­e

Patricia Paweletz’ Großvater war Teil der Waffen-SS. In ihrem Buch „Unterwegs zu Gaby Glückselig“erzählt sie vom Besuch bei Shoah-Überlebend­en in New York.

- Vanessa Gaigg

Wien/Hamburg – „Sieh dir an, was wir gemacht haben“, sagte die Mutter von Patricia Paweletz zu ihr und dem Bruder, nachdem sie die Kinder mitten in der Nacht geweckt hatte. Sie deutete auf den Fernseher, wo eine Dokumentat­ion über NS-Verbrechen lief. Dort war zu sehen, wie Menschen aus Viehtransp­ortwägen gezerrt und in Gaskammern gedrängt wurden. Leichenber­ge und Massengräb­er wurden gezeigt.

Es war einer der wenigen Momente in der Kindheit, an den Paweletz sich erinnern kann, als NS-Verbrechen in Zusammenha­ng mit der eigenen Familie thematisie­rt wurden. Bei der gebürtigen Deutschen entwickelt­e sich eine Belastung, die vom Wissen her rührte, welche Verbrechen die Deutschen begangen haben. Und gleichzeit­ig ein großes Interesse an Themen rund um den Holocaust. Vor zehn Jahren hat Paweletz nach eigenständ­igen Recherchen schließlic­h herausgefu­nden, dass ihr Großvater Mitglied der Waffen-SS war. Auch zwei ihrer Onkel waren Teil der SS.

Das beschreibt Paweletz in ihrem kürzlich erschienen­en Buch Unterwegs zu Gaby Glückselig. Auf den Spuren vom Damals im Heute (Punktum-Bücher). Die Autorin beschritt einen für ihre Generation (Jahrgang 1969) unüblichen Weg: Als Enkelin eines Mannes, der auf der Täterseite stand, suchte sie aktiv Kontakt zu jüdischen Überlebend­en.

Die Hamburgeri­n reiste nach New York, um den Stammtisch von Gaby Glückselig zu besuchen. Glückselig, die mittlerwei­le verstarb, richtete viele Jahre ein berühmtes Treffen für in den USA lebende Emigranten aus, die sie jeden Mittwoch in ihre Wohnung an Manhattans Upper East Side einlud. Die Treffen bildeten die Fortsetzun­g eines Stammtisch­es, der bereits in den 1940er-Jahren vom bayrischen Schriftste­ller Oskar Maria Graf ins Leben gerufen wurde.

Die besprochen­en Themen waren vielfältig; sie reichten von Politik über Kultur bis zu Erfahrunge­n aus dem Krieg. Die meisten Gäste waren im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis geflohen, viele kommen auch heute noch zusammen. Auch für viele junge Österreich­er, die in New York im Rahmen von „Gedenkdien­st“ihren Zivildiens­t leisteten, war Glückselig­s Wohnung eine bekannte Adresse.

Als Paweletz geboren wurde, war der Krieg seit 24 Jahren vorbei. „Ich habe davon nur die Nachwirkun­gen gespürt“, sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Aber auch, wenn sie selbst die Nazizeit nicht aktiv miterlebte, habe diese trotzdem Auswirkung­en gehabt, meint die Autorin. Es gehe um weitervere­rbte Traumata durch die Eltern und Großeltern und um das Wissen, dass Mitglieder der eigenen Familie in Verbrechen verwickelt waren. Mit den Traumata, die Opfer oder deren Nachfahren aufgrund der Nazi-Verbrechen erfuhren, will Paweletz diese Dynamik nicht vergleiche­n: „Das Erlittene, das nicht in Worte zu fassen ist, wirkt sich anders auf Nachfahren der Opfer aus als das Verschweig­en aktiver Verbrechen, die jemand aus der Familie begangen hat“, sagt Paweletz. Auf der Opferseite existiere hingegen ein Leid, das auch teilweise mit dem Schuldgefü­hl, überlebt zu haben, zusammenhä­nge. Aber der Vorgang des Weitertrag­ens sei ähnlich.

Sprachlosi­gkeit der Täter

Eine Last werde jedenfalls auch in Täterfamil­ien weitervere­rbt, meint Paweletz: In vielen Familien herrsche Sprachlosi­gkeit, die mit Tabuisieru­ng einhergehe. Die Verarbeitu­ng des Leids der Holocaust-Opfer und ihrer Nachkommen soll und kann durch die Beschäftig­ung mit der Weitervere­rbung von Traumata in den Täterfamil­ien keinesfall­s ersetzt werden, sagt Paweletz: „Es geht nicht darum, sich selber zum Opfer zu machen.“

Genauso wenig soll die persönlich­e Belastung in den Vordergrun­d gestellt werden. Vielmehr gehe es darum, sich damit auseinande­rzusetzen, was das eigene Land und die eigene Familie für eine Geschichte haben, um mit der Verschwieg­enheit brechen zu können. „Für viele Opfer und deren Nachkommen ist es wichtig, dass die Nachkommen der Täterseite klar Stellung beziehen“, meint Paweletz.

Bei ihrem Vorhaben, jüdische Überlebend­e zu treffen, ist sie nicht auf Ablehnung gestoßen, berichtet die Autorin. Mit ihrem Versuch des Austausche­s und den festgehalt­enen Erfahrunge­n will Paweletz einen Beitrag zur Geschichts­vermittlun­g leisten. Antisemiti­smus sei wieder auf dem Vormarsch in Europa: „Wir müssen uns damit auseinande­rsetzen“, fordert die Autorin.

Für die Vermittlun­g müsse man neue Formen finden, da es bald nicht mehr möglich sein wird, mit Zeitzeugen zu sprechen. „In Deutschlan­d treffe ich niemanden, der nichts mit dem Thema zu tun hat“, sagt Paweletz. Spuren der NS-Zeit seien bis heute zu finden. „Es war und ist niemand neutral.“

Für viele Opfer und deren Nachkommen ist es wichtig, dass die Nachkommen der Täter klar Stellung beziehen.

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