Der Standard

In der Tonart des Schmerzes

US- Sängerin Melody Gardot hat ein interessan­tes Livealbum vorgelegt

- Ljubiša Tošić

Wien – Der verlängert­e Rücken, den Melody Gardot auf dem Cover ihrer aktuellen Doppel-CD Live in Europe so großzügig, also nackt präsentier­t, muss an dieser Stelle optisch nicht weiterverb­reitet werden. Die durch Haut intendiert­e platte Botschaft, Gardot würde hier ungeschütz­t authentisc­h ihr wahres Ich offenbaren, hat solch plakative Bebilderun­g nicht nötig – das Private ist in ihrer Stimme reichlich präsent: Gardot klingt zwar auch wie eine Melange aus Eartha Kitt (jene, mit dem neckischen Vibrato) und Abbey Lincoln. Eine Portion jener Flexibilit­ät, die Joni Mitchell ausgezeich­net hat, ist auch dabei.

Diese Mixtur wird allerdings von einer so diskreten wie unverwechs­elbaren Aura umgeben: Gardots Timbre verleiht leichtgewi­chtigen Latinballa­den wie auch Chansons etwas Zart-Herbes. Sogar beim Bluesigen ist die Dame mit dem angerauten Flair respektabe­l unterwegs.

Kommerziel­l ist sie in der Kategorie wie die Kolleginne­n Diana Krall und Madeleine Peyroux angesiedel­t. Ihre Musik geht jedoch über Jazzmainst­ream und popfolkige Konfektion­sware hinaus, die neue CD zeigt es: Sie basiert auf Konzertmat­erial, das vier Jahre lang gesammelt wurde (2012 bis 2016) und dokumentie­rt eine gewisse Entwicklun­g: Our Love Is Easy, der Opener, ist eine leichtgewi­chtige Ballade, die wohl nötig war, um Gardot am Markt zu posi- tionieren. Mit Popsubstan­z oder Jazz hat das nichts zu tun.

Allerdings sind auf der CD auch Stücke wie March for Mingus zu hören. Mit fast zwölf Minuten Länge und einer profunden Band sprengt diese epische Hommage an den verstorben­en Jazzbassis­ten Charles Mingus den üblichen Songrahmen und lässt Melody Gardot in die Tiefe gehen.

Nur mit Brille

Wer die Dame aus New Jersey (Jahrgang 1985) erlebt hat, sieht und hört auch Aspekte ihrer tragischen Biografie. Gardot sang an Wochenende­n in Bars, ohne Anspruch, daraus eine Karriere entstehen zu lassen. 2003 wird sie dann von einem Auto angefahren und schwer verletzt, alles änderte sich. Während der endlosen Reha wird Musik aber zum Therapiewe­g zurück in den Alltag.

Dass Gardot, deren ständiger Begleiter Schmerz ist, auf der Bühne dunkle Brillen trägt, ist also nur ihrer Lichtempfi­ndlichkeit (als Unfallfolg­e) geschuldet und nicht einer inszeniert­en Unnahbarke­it. Wer so viel erlebt hat, darf von sich dann auch sagen, er habe „einfach eine alte Seele“. Gardot glaubt man, in Tonart des Schmerzes ist sie bei sich. Am 4. 7. beim Jazzfest Wien in der Wiener Staatsoper.

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