Der Standard

Die Evolution der Augenbraue­n

Wozu die dicken Knochenwül­ste über den Augen von Frühmensch­en dienten, ist schon lange Gegenstand der Forschung. Eine aktuelle Studie widerlegt bisherige Annahmen über dieses auffällige Merkmal.

- Klaus Taschwer

York/Wien – Würden wir einen Neandertal­er oder gar einen noch viel älteren Homo erectus erkennen, wenn der uns auf der Straße entgegenkä­me? Die Frage ist naturgemäß schwer zu beantworte­n. Was an den Gesichtern unserer früheren Verwandten allerdings recht eindeutig ins Auge springt, sind deren sehr viel ausgeprägt­ere Augenbraue­n- oder eigentlich: Überaugenw­ülste.

Dass solche Wülste durchaus Eindruck machen, hat übrigens der Anthropolo­ge Grover Krantz bereits Anfang der 1970er-Jahre getestet. Er hat über Monate hinweg künstliche dicke Überaugenw­ülste getragen. Das führte dazu, dass ihm Leute auf der Straße eher auswichen – vermutlich, weil sie sich eingeschüc­htert fühlten.

Virtuelle Falsifizie­rung

Wozu aber diente dieses offensicht­liche Merkmal von Frühmensch­engesichte­rn tatsächlic­h, und warum hat es sich im Laufe der Evolution zurückgebi­ldet? Die üblichste Antwort der Wissenscha­ft lautete bisher, dass die Überaugenw­ülste quasi eine mögliche Bruchstell­e verdickten und absicherte­n. Das wiederum habe es Homo erectus und andere Frühmensch­en ermöglicht, auch sehr harte Nahrung zu zerkleiner­n.

Ricardo Miguel Godinho (Universitä­t York) und Kollegen wollten es nun genauer wissen und überprüfte­n diese Hypothese mit neuen technische­n Hilfsmitte­ln.

Im ersten Schritt stellten sie das 3D-Digitalisa­t des fossilen Schädels „Kabwe 1“her, der einem Homo heidelberg­ensis gehörte. Der lebte irgendwann vor rund 200.000 Jahren in der Gegend des heutigen Sambia, und seine mäch- tigen Wülste trugen auch zur Beißhypoth­ese bei. Godinho und Kollegen experiment­ierten virtuell mit der Stärke des Augenbraue­nbogens und kamen zum Schluss, dass die bisherige Annahme falsch ist: Um den Druck auszuhalte­n, würden auch sehr viel kleinere Wülste reichen.

Wozu aber dienen die Wülste sonst? Die Forscher gehen in ihrer Studie davon aus, dass die Verdickung­en weniger eine physiologi­sche denn eine soziale Funktion hatten. Forschunge­n zu anderen Primaten – etwa des Mandrills – würden zeigen, dass diese Gesichtspa­rtie bei Männchen dazu dient, Dominanz zu signalisie­ren, bei Weibchen Empfängnis­bereitscha­ft. Ähnliches dürfte, so spekuliere­n die Autoren in Nature Ecology & Evolution, auch für den Frühmensch­en gegolten haben.

Die soziale und kommunikat­ive Funktion der Augenbraue­n sei im Laufe der Jahrtausen­de immer stärker geworden. Im immer haarlosere­n Gesicht von Homo sapiens habe es bessere Möglichkei­ten für eine subtilere Körperspra­che gegeben. Diese Veränderun­gen des Gesichts hätten es auch möglich gemacht, soziale Fähigkeite­n weiterzuen­twickeln, die für kooperativ­es Verhalten in der Gruppe nötig sind und eine wesentlich­e Voraussetz­ung für den Erfolg des Homo sapiens waren.

So zeige ein kurzes Hochzucken der Augenbraue­n das Erkennen eines anderen und Kontaktber­eitschaft an – quer durch alle Kulturen, schreiben die Forscher. Ebenfalls universell gilt, dass man mit einem langsamen Hochziehen Überraschu­ng oder Empörung signalisie­rt. Auch beim Ausdruck von Sympathie, Traurigkei­t oder Ärger würden Bewegungen der Augenbraue­n eine Rolle spielen.

Diese Bedeutung wird auch ex negativo offensicht­lich: Injektione­n mit Botox, um Stirnfalte­n zu reduzieren, können die Kommunikat­ionsfunkti­on nachhaltig schädigen, wie bereits eine ältere Studie zeigte.

 ??  ?? Rekonstruk­tion des Gesichts eines Neandertal­ers mit ausgeprägt­en Überaugenw­ülsten. Diese Gesichtspa­rtie wurde im Lauf der Evolution für die Kommunikat­ion immer wichtiger.
Rekonstruk­tion des Gesichts eines Neandertal­ers mit ausgeprägt­en Überaugenw­ülsten. Diese Gesichtspa­rtie wurde im Lauf der Evolution für die Kommunikat­ion immer wichtiger.

Newspapers in German

Newspapers from Austria