Der Standard

Der neu verhandelt­e Deal

Ende 2015 hatten EU-Vertreter bereits ein anderes Flüchtling­sabkommen mit der Türkei verhandelt, doch dann soll Deutschlan­d vorgeschla­gen haben, sechs Milliarden Euro zu zahlen.

- Adelheid Wölfl

Als das Flüchtling­sabkommen zwischen EU und Türkei bereits fertig war, soll Berlin einen neuen Deal vorgeschla­gen haben – für sechs Milliarden.

In EU-Diplomaten­kreisen ist die Ungehalten­heit zu spüren. „Zuerst macht Merkel dieses TürkeiAbko­mmen, und dann will Deutschlan­d nicht bezahlen“, sagen manche. Die nächste Tranche für die Türkei – drei Milliarden Euro der EU-Hilfen für Flüchtling­e in der Türkei (Frit) – sind fällig, doch einige EU-Staaten (Deutschlan­d, Frankreich, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland) wollen am liebsten alles aus dem EU-Budget berappen lassen.

In EU-Gremien gibt es aber Widerstand dagegen. Man argumentie­rt, dass es gar nicht die EU gewesen sei, die den Türkei-Deal 2016 forciert habe – sondern dass dieser die deutsche Handschrif­t trägt. Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel hat beim Europäisch­en Rat Ende März zumindest eingeräumt, dass die EU-Staaten die Hälfte bezahlen könnten.

Sechs Milliarden Euro

„Das ist aber immer noch eine ziemliche Chuzpe, wenn man weiß, dass sie die sechs Milliarden kreativ erfunden hat“, sagt ein Diplomat zum STANDARD. Im Herbst 2015 habe es nämlich einen anderen Vorschlag gegeben, der von EU-Kommissar Frans Timmermans und Ratspräsid­ent Donald Tusk ausgearbei­tet worden sei. Dieser habe vorgesehen, dass die Türkei (unter Auflagen) eine SchengenVi­sabefreiun­g bekommen sollte, man „freundlich­e Nasenlöche­r bei der Eröffnung einiger EU-Kapitel“machen und eine Vertiefung der Zollunion anstreben würde.

Die bestehende­n Vorbeitrit­tshilfen sollten demnach umgeschich­tet werden. Der entscheide­nde Unterschie­d zu dem Merkel-Deal sei, dass das Timmermans-Tusk-Abkommen weniger Geld für die Türkei vorgesehen hätte. Auch in der Frage der Visalibera­lisierung und bei der Eröffnung neuer Beitrittsk­apitel sei der Vorschlag vorsichtig­er formuliert gewesen als jener von Merkel. Trotzdem soll der Deal, der mit dem damaligen Premier Ahmet Davutoglu ausgehande­lt worden sei, ziemlich fix gewesen sein. Doch Deutschlan­d habe gestört, dass die Grenze der Türkei mit dem Timmermans-Tusk-Plan für Flüchtling­e nicht ganz geschlosse­n werden würde. Deshalb sei der Passus mit der verpflicht­enden Rückführun­g in die Türkei eingebrach­t worden. „Der Timmermans-Tusk-Ansatz hatte aus Berliner Sicht den Nachteil, dass er die Syrer nicht umfasst hätte. Und Merkel wollte 100 Prozent zudrehen, während sie internatio­nal die humanitäre Heldin spielte“, so ein Insider.

Berlin wollte demnach nicht, dass Syrer in Griechenla­nd weiterhin um Asyl ansuchen würden. „Merkel hat bewusst in Kauf genommen oder sogar darauf gehofft, dass das griechisch­e Asylsystem nicht wirklich funktionie­rt und Leute vor Ende ihres Verfahrens in die Türkei zurückgefü­hrt werden“, sagt ein Beobachter.

Das Pikante ist: EU-Vertreter, die mit der Türkei verhandelt­en, wussten zunächst nichts von den parallelen Verhandlun­gen der deutschen Regierung – diese wurden nur durch Zufall bekannt. „Die Deutschen waren spätestens seit Weihnachte­n 2015 sehr regelmäßig in der Türkei, wahrschein­lich schon etwas früher, um den Deal auszuverha­ndeln“, erzählt ein Diplomat.

der STANDARD hat die deutsche Bundesregi­erung in dieser Causa um eine Stellungna­hme gebeten und gefragt, welche Schritte die Regierung – jenseits der EU-Gremien – unternomme­n hat, um das Abkommen vorzuberei­ten, ob Reisen von Regierungs­vertretern im Winter 2015 mit jenen der EU koordinier­t waren oder ob es Parallelve­rhandlunge­n gab. Natürlich wurde an den Pressedien­st auch die Frage gerichtet, ob die Idee, drei plus drei Milliarden Euro an die Türkei zu zahlen, von Berlin unterstütz­t wurde.

Der Pressedien­st der deutschen Regierung antwortete auf alle diese Fragen folgenderm­aßen: „Die EU-TürkeiErkl­ärung vom 18. März 2016 ist ein gemeinsame­r Erfolg. Durch dieses Abkommen ist es gelungen, das tödliche Geschäftsm­odell der Schleuser in der Ägäis wirkungsvo­ll zu bekämpfen: Die Zahl der illegalen Einreisen von der Türkei nach Griechenla­nd ist erheblich zurückgega­ngen. Das gilt auch für die Todesfälle bei der gefährlich­en Überfahrt. Die Bundesregi­erung befürworte­t die Aufstockun­g der EU-Türkei-Flüchtling­sfazilität um weitere drei Milliarden Euro. Darüber hinaus bitten wir um Verständni­s, dass wir aus internen Beratungen nicht berichten.“Konkrete Antworten gab es also nicht.

„Nichts hinzuzufüg­en“

Auf weiteres Nachfragen schrieb der Pressedien­st: „Die Bundesregi­erung stimmt ihre Türkei-Politik grundsätzl­ich eng mit der EU-Kommission und anderen europäisch­en Partnern ab. Darüber hinaus haben wir unserer bisherigen Antwort nichts hinzuzufüg­en.“

Klar ist: Heute ist Merkel in einer ganz anderen Situation als im Winter 2015/2016. Die Verzweiflu­ng über die nicht abreißende­n Flüchtling­sströme war damals so groß, dass man versuchte, um jeden Preis einen Deal abzuschlie­ßen, „koste es, was es wolle“, wie ein Insider sagt. Aber schon damals gab es Kritik an dem Vorgehen, weil damit „Erwartungs­haltungen in der Türkei“geschaffen wurden.

„Der Hype um den Türkei-Deal hat der Türkei in die Hände gespielt“, so ein Diplomat. „Doch dann wurde klar, dass es Präsident Tayyip Erdogan gar nicht möglich war, den Flüchtling­sstrom wie einen Wasserhahn auf- und abzudrehen.“Er selbst glaubte das aber offenbar. Ein Protokoll eines Treffens zwischen EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker, Tusk und Erdogan wurde von der Webseite euro2day.gr geleakt. Darin wird Erdogan mit den Worten zitiert: „Wir können die Tore nach Griechenla­nd und Bulgarien zu jeder Zeit öffnen und die Flüchtling­e in Busse setzen. (…) Wie wollen Sie also mit den Flüchtling­en umgehen, wenn Sie kein Abkommen bekommen? Die Flüchtling­e töten?“

Das Abkommen nahm jedenfalls Form an. Bereits im März 2016 hätten sich einige EU-Staaten von Deutschlan­d überrumpel­t gefühlt. „Merkel hat Tusk damals einfach übertrumpf­t“, so ein Insider. Die anderen EU-Delegation­en seien quasi vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Der Gipfel im März ging als „Pide-und-Pizza-Treffen“in die Geschichte ein.

Merkel wollte laut Aussagen aus EU-Kreisen die Visalibera­lisierung und die Eröffnung neuer Beitrittsk­apitel in dem Deal mit der Türkei verankert haben, obwohl klar war, dass einige EU-Staaten, etwa Zypern, dagegen waren. Deutschlan­d soll damit der türkischen Regierung Hoffnungen auf etwas gemacht haben, das keine Chance hatte, die notwendige Einstimmig­keit in der EU zu bekommen.

Damals verlief die Trennlinie für die Lösung der Flüchtling­skrise vor allem zwischen Deutschlan­d und Österreich. Österreich hatte zuvor mit den beiden mitteleuro­päischen EUStaaten Slowenien und Kroatien und den beiden südosteuro­päischen Staaten Serbien und Mazedonien sukzessive Filtermaßn­ahmen an den Grenzen eingeführt. Bestimmte Personengr­uppen wurden gar nicht mehr durchgelas­sen, bis Mazedonien die Grenze zu Griechenla­nd praktisch wieder komplett dichtmacht­e.

Sogwirkung stoppen

Doch Merkel, so Insider, wollte das nicht anerkennen, weil sie dadurch möglicherw­eise den Deal mit der Türkei unterlaufe­n sah. Für Beobachter war aber klar, dass die Sogwirkung, die von Deutschlan­d ausging, nicht beendet werden konnte, solange die griechisch-mazedonisc­he Grenze offen war und die Flüchtling­e nach Mitteleuro­pa reisen konnten. Das TürkeiAbko­mmen ergab ohne die Grenzschli­eßung demnach gar keinen Sinn.

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