Die deutsche Kanzlerin allein gegen fast alle
Dass Deutschland ab 2015 in der EU bei der Flüchtlingskrise fast allein dastand und gemeinsame Lösungen bis heute schwierig sind, hat mit der Dominanz von Kanzlerin Angela Merkel zu tun, auch beim EU-Türkei-Pakt.
Angela Merkel konnte von Anfang an wissen, dass sie bei der Einhaltung ihrer Versprechen zur Flüchtlingskrise in Europa ziemlich allein sein werde. „Wir schaffen das!“, hatte die deutsche Kanzlerin ihren Landsleuten am 31. August 2015 Mut gemacht. Die zeigten sich verzückt von der humanitären Einstellung ihrer Kanzlerin.
Eine Woche davor hatte das Außenamt in Berlin erklärt, dass man die EU-Asylregeln von sich aus aussetzen werde. Das bedeutete, dass irregulär einreisende Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellen können – also nicht dorthin gebracht werden, wo sie EU-Boden betraten, in Griechenland und Italien, in Ungarn. Deutsche Geheimdienste und solche in Frankreich, Italien und den USA hatten längst Alarm geschlagen: Nicht 200.000, wie prognostiziert, sondern 800.000 Migranten würden kommen. Am Ende waren es fast eine Million. Die Zahlen wurden in Berlin nicht bestätigt, ähnlich in Österreich. Der damalige Außenminister Sebastian Kurz hatte zwar im Mai in Brüssel angedeutet, dass in seinem Land gut 80.000 statt der (offiziell) erwarteten 30.000 Flüchtlinge um Asyl ansuchen würden. Aber nicht nur Merkel, auch Kanzler Werner Faymann ließ die Dinge trotz Warnungen treiben. Es gab Landtagswahlen in der Steiermark, im Burgenland, in Wien.
Die Bürger quer durch die EU waren ohnehin schwer verunsichert. Mitte 2015 dominierten der Grexit, die Pleite Griechenlands, mögliche Einbrüche für den Euroraum die Schlagzeilen.
Merkel, die „Königin Europas“, dominierte das politische Geschehen, auch in Sachen Migration. Hatte sie jahrelang die Vorschläge der Kommission auf Harmonisierung der EU-Migrationspolitik zurückgewiesen, setzte sie nun ganz auf eine „europäische Lösung“. Gemeint: eine von Berlin konzipierte EU-Lösung. Das führte im wichtigsten Partnerland, Frankreich, und beim sozialistischen Präsidenten François Hollande zu Verärgerung. Er sprach von „einer deutschen Angelegenheit“, als es da- rum ging, was mit hunderttausenden Migranten geschehen solle.
Hinter vorgehaltener Hand sahen das die meisten EU-Partner so. Hollande hatte der Kanzlerin die kalte Schulter gezeigt, als sie am 4. September ihr Land für Flüchtlinge aus Ungarn öffnete, nachdem Premier Viktor Orbán seine Drohungen, die Grenzen zu öffnen, wahr gemacht hatte. Merkel ließ in Paris anfragen, ob man bereit sei, tausend Flüchtlinge zu nehmen. Antwort: „Ja, einmal, ausnahmsweise.“Die Regierungschefs beschlossen beim EU-Gipfel die Aufteilung von Asylwerbern aus Italien und Griechenland per Länderquoten. Die Umsetzung klappte nicht. Nur knapp 35.000 Personen wurden bis Anfang 2018 umgesiedelt, von geplant 160.000.
Anfang 2016 setzte auf EU-Ebene ein Umdenken zur „Balkanroute“ein. Ratspräsident Donald Tusk war der erste, brachte beim EU-Gipfel Anfang März die Formulierung „Die Route auf dem Westbalkan wird geschlossen“ein – unabhängig von einem EU-Türkei-Deal. Merkel sagte Nein. Sie setzte ganz auf den Pakt mit Ankara. Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker durften diesen in Brüssel präsentieren.