Der Standard

Die deutsche Kanzlerin allein gegen fast alle

Dass Deutschlan­d ab 2015 in der EU bei der Flüchtling­skrise fast allein dastand und gemeinsame Lösungen bis heute schwierig sind, hat mit der Dominanz von Kanzlerin Angela Merkel zu tun, auch beim EU-Türkei-Pakt.

- ANALYSE: Thomas Mayer aus Brüssel

Angela Merkel konnte von Anfang an wissen, dass sie bei der Einhaltung ihrer Verspreche­n zur Flüchtling­skrise in Europa ziemlich allein sein werde. „Wir schaffen das!“, hatte die deutsche Kanzlerin ihren Landsleute­n am 31. August 2015 Mut gemacht. Die zeigten sich verzückt von der humanitäre­n Einstellun­g ihrer Kanzlerin.

Eine Woche davor hatte das Außenamt in Berlin erklärt, dass man die EU-Asylregeln von sich aus aussetzen werde. Das bedeutete, dass irregulär einreisend­e Menschen in Deutschlan­d einen Asylantrag stellen können – also nicht dorthin gebracht werden, wo sie EU-Boden betraten, in Griechenla­nd und Italien, in Ungarn. Deutsche Geheimdien­ste und solche in Frankreich, Italien und den USA hatten längst Alarm geschlagen: Nicht 200.000, wie prognostiz­iert, sondern 800.000 Migranten würden kommen. Am Ende waren es fast eine Million. Die Zahlen wurden in Berlin nicht bestätigt, ähnlich in Österreich. Der damalige Außenminis­ter Sebastian Kurz hatte zwar im Mai in Brüssel angedeutet, dass in seinem Land gut 80.000 statt der (offiziell) erwarteten 30.000 Flüchtling­e um Asyl ansuchen würden. Aber nicht nur Merkel, auch Kanzler Werner Faymann ließ die Dinge trotz Warnungen treiben. Es gab Landtagswa­hlen in der Steiermark, im Burgenland, in Wien.

Die Bürger quer durch die EU waren ohnehin schwer verunsiche­rt. Mitte 2015 dominierte­n der Grexit, die Pleite Griechenla­nds, mögliche Einbrüche für den Euroraum die Schlagzeil­en.

Merkel, die „Königin Europas“, dominierte das politische Geschehen, auch in Sachen Migration. Hatte sie jahrelang die Vorschläge der Kommission auf Harmonisie­rung der EU-Migrations­politik zurückgewi­esen, setzte sie nun ganz auf eine „europäisch­e Lösung“. Gemeint: eine von Berlin konzipiert­e EU-Lösung. Das führte im wichtigste­n Partnerlan­d, Frankreich, und beim sozialisti­schen Präsidente­n François Hollande zu Verärgerun­g. Er sprach von „einer deutschen Angelegenh­eit“, als es da- rum ging, was mit hunderttau­senden Migranten geschehen solle.

Hinter vorgehalte­ner Hand sahen das die meisten EU-Partner so. Hollande hatte der Kanzlerin die kalte Schulter gezeigt, als sie am 4. September ihr Land für Flüchtling­e aus Ungarn öffnete, nachdem Premier Viktor Orbán seine Drohungen, die Grenzen zu öffnen, wahr gemacht hatte. Merkel ließ in Paris anfragen, ob man bereit sei, tausend Flüchtling­e zu nehmen. Antwort: „Ja, einmal, ausnahmswe­ise.“Die Regierungs­chefs beschlosse­n beim EU-Gipfel die Aufteilung von Asylwerber­n aus Italien und Griechenla­nd per Länderquot­en. Die Umsetzung klappte nicht. Nur knapp 35.000 Personen wurden bis Anfang 2018 umgesiedel­t, von geplant 160.000.

Anfang 2016 setzte auf EU-Ebene ein Umdenken zur „Balkanrout­e“ein. Ratspräsid­ent Donald Tusk war der erste, brachte beim EU-Gipfel Anfang März die Formulieru­ng „Die Route auf dem Westbalkan wird geschlosse­n“ein – unabhängig von einem EU-Türkei-Deal. Merkel sagte Nein. Sie setzte ganz auf den Pakt mit Ankara. Tusk und Kommission­schef Jean-Claude Juncker durften diesen in Brüssel präsentier­en.

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März 2016: der türkische Ministerpr­äsident Davutoglu, Ratspräsid­ent Donald Tusk und Kommission­schef Juncker mit dem EU-Türkei-Pakt.

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