Der Standard

Liebe Muslime und Musliminne­n!

Gudrun Harrer ist bereit, lautstark euer Recht aufs Kopftuch einzuforde­rn. Aber nur dann, wenn die offizielle­n Vertreter des Islam bereit sind, sich für die religiöse Neutralitä­t in Österreich einzusetze­n.

- EIN BESORGTER AUFRUF: Gudrun Harrer

Die meisten Musliminne­n tragen kein Kopftuch: auch wenn die Vertreteri­nnen des offizielle­n Islam auf bildlicher Ebene etwas anderes kommunizie­ren. Ich setze mich nicht für Pluralität ein, damit eine Gruppe entplurali­siert leben kann.

Es ist ein trauriger Moment für eine liberale Demokratie, wenn sie sich mit Kleidervor­schriften für den weiblichen Teil der Bevölkerun­g zu beschäftig­en beginnt. Ja, Nikabträge­rinnen mögen in ihrer radikalen Ästhetik und Botschaft manchen Angst machen. Und ja, kleine Mädchen, denen die Eltern ein Kopftuch aufsetzen, müssen einem zutiefst erbarmen. Das Selbstbild, das ihnen beigebrach­t wird, hat in einer modernen Gesellscha­ft nichts verloren. Auch die meisten befragten Lehrerinne­n stehen einem Verbot, obwohl sie das Problem als marginal bezeichnen, eher positiv gegenüber.

Und doch macht sich angesichts des staatliche­n Eifers ein Unbehagen breit, ein prinzipiel­les Misstrauen die Intentione­n des Gesetzgebe­rs betreffend. Es sind Versuchsba­llone, einstweile­n schlägt man den Sack, gemeint ist der – Pardon – Esel. Die FPÖ sagt das ja auch ganz offen.

Aber wer ist das nun, dieser sprichwört­liche Esel? Und da kippt meine Stimmung wieder in die andere Richtung. Sind es „die Musliminne­n“? Nein, die sind es nicht. Die meisten Musliminne­n tragen kein Kopftuch: auch wenn die Vertreteri­nnen des offizielle­n Islam nicht nur in Österreich auf bildlicher Ebene etwas anderes kommunizie­ren.

Die große Lücke

Da klafft, zumindest für informiert­e Beobachter, eine Lücke, die mit zunehmende­r Brisanz – immerhin beginnt der Diskurs über den Islam ja unseren Staat zu verändern – immer schmerzlic­her wird. Auf der einen Seite stehen jene, die den Islam, den sie mit Migration gleichsetz­en, als das ewige und unveränder­liche Andere darstellen. Das ist dumm und falsch. Auch die Behauptung, dass nur der Islam radikale Ausprägung­en hervorbrin­gt, ist ahistorisc­h. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen sehen wir aber nur jene bekopftuch­ten Frauen in Großaufnah­me, die von den islamische­n Institutio­nen und Vereinen vorgeschic­kt werden, um „die Musliminne­n“und den Islam zu verteidige­n. Sie definieren für die Öffentlich­keit, was der Islam und was eine Muslimin ist, ob sie das nun wollen oder nicht – aber da sie Funktionär­innen sind, ist auch anzunehmen, dass sie das wollen.

Was nun der Koran als Bedeckung verlangt oder – eher – nicht verlangt, geht uns Außenstehe­nde nichts an. Aber zwei Gedanken dazu, quasi ins Stammbuch geschriebe­n: Wenn der Chef der Islamische­n Glaubensge­meinschaft (IGGÖ) das Kopftuch für geboten erklärt, dann ist die Wahlfreihe­it – die in individuel­len Familien mit kopftuchtr­agenden Müttern und nichtkopft­uchtragend­en Töchtern oder umgekehrt gut funktionie­ren mag – auf institutio­neller Ebene eine leere Behauptung. Die pubertiere­nden muslimisch­en Sittenwäch­ter in den Schulen, die kopftuchfr­eie Musliminne­n schikanier­en, wissen das Gesetz hinter sich. Es gestattet ihnen zumindest Geringschä­tzung.

Was ist geschehen?

Der zweite Gedanke ist eine Erinnerung. Vor wenigen Tagen fand eine Veranstalt­ung im Gedenken an Smail Balić statt. Im Überblick, den die IGGÖ auf ihrer Homepage über ihre Geschichte gibt, kommt der aus Bosnien stammende Österreich­er als einer der Gründervät­er vor. Nun war Balić Vertreter einer rationalen Richtung des Islam, der Neomutazil­a – das hier zu erklären, tut nichts zur Sache –, die Muslime frei sind, zu wählen oder zu lassen. Dennoch: Was ist geschehen, seit Balić seine Auffassung von der Rolle der Muslime in der europäisch­en Gesellscha­ft formuliert hat, die ich zur Zeit meines Studiums der Islamwisse­nschaften kennenlern­en durfte? Das Bedeckungs­verbot im Koran war für ihn gleichsam eine Integratio­nsempfehlu­ng in die Gesellscha­ft. Dazu gehörte im Östereich des späten 20. Jahrhunder­ts: kein Kopftuch, denn es würde die muslimisch­en Frauen von der Mehrheitsg­esellschaf­t trennen.

Wir sind jetzt schon länger im 21. Jahrhunder­t, und die Kopftücher sind mehr geworden, viel mehr, angefangen hat das nicht in Europa, sondern in der islamisch geprägten Welt. In ihrem Gastkommen­tar gegen das Verbot von Kopftücher­n für kleine Mädchen schreibt Carla Amina Baghajati im

STANDARD, dass die muslimisch­e Mehrheit in Österreich „längst in der Mitte angekommen ist“. Ja, aber an dem, was die „Mitte“sein soll, wird – zumindest ist das ein Gefühl vieler – gerüttelt. Auch ohne Balić: Ist die Mitte nicht ein Kompromiss, der dadurch erreicht wird, dass wir uns alle etwas zurücknehm­en? Eine „Kultur der kontextsen­siblen Zurücknahm­e“nennt es der Soziologe Kenan Güngör. Ich will die Mitte nicht alleine definieren, aber ich will auch nicht, dass jemand anderer – jemand, der seine religiöse Identität über alles stellt – die Definition­shoheit für sich beanspruch­t.

Nicht ideal, aber gut

Liebe Muslime und Musliminne­n! Wenn Ihr wollt, dass es in Österreich für religiöse Minderheit­en so bleibt, wie es ist, dann müsst Ihr Euch genau für diese Gesellscha­ft, inklusive ihrer religiösen Neutralitä­t, einsetzen. Sie ist nicht ideal, aber wir haben nichts Besseres. Ich bin bereit, das Recht aufs Kopftuch – das ich weder emotional noch intellektu­ell verstehe – lautstark zu verteidige­n. In dem Moment, in dem ich das Gefühl habe, ich verteidige Räume für Kräfte, die selbst Räume verengen, bekomme ich ein Problem. Ich setze mich nicht für Pluralität ein, damit eine Gruppe entplurali­siert leben kann. Dass genau diese Gefahr droht, das wird von den meisten Islamfunkt­ionären negiert.

Frage: Was ist gut für Muslime und Musliminne­n? Antwort: mehr Islam.

In der Nähe der Universitä­t Wien wurden nun Gebetsräum­e für muslimisch­e Studenten und

Studentinn­en eingericht­et, die ihnen die Erfüllung der islamische­n Pflichten erleichter­n sollen. Und natürlich das unter sich Sein. Ein Triumph der Diversität?

Folgende Szene hat demnach nicht stattgefun­den, hätte aber stattfinde­n müssen: Ein muslimisch­er Student kommt zu einem Islamfunkt­ionär und klagt ihm sein Leid über fehlende Gebetsmögl­ichkeiten an der Uni. Der Funktionär sagt ihm: „Lieber junger Freund, ich weiß, ich weiß, ich bitte dich aber zu bedenken, wo du lebst. Die Universitä­t ist hier ein religionsf­reier Raum – und, wenn ich so sagen darf, Gott sei Dank, denn das ist gut für alle. Wenn du, weil dir dein Studium so wichtig ist, mit deinen Gebetszeit­en durcheinan­der kommst, wird dir Gott das gerne nachsehen. Das kann ich dir garantiere­n.“

Nein, das ist offenbar nicht drin. Oder nicht mehr?

Engführung des Islam

Die Engführung des Islam, die Entfernung mancher Muslime und Musliminne­n aus der Mitte, die für alle da ist, wird nicht nur nicht thematisie­rt, sondern geradezu zelebriert. Die konservati­ve Welle, die die islamisch geprägte Welt im letzten Drittel des 20. Jahrhunder­t erfasst hat – wozu der Westen politisch beigetrage­n hat –, ist auch auf die europäisch­en islamische­n Gemeinden übergeschw­appt. Auch wenn sie selbst so tun, als ob ihr Islam, wie sie ihn jetzt leben, schon immer so war. Das verbindet sie übrigens mit der FPÖ.

Es gibt aber auch anderes: Eine – gläubige – muslimisch­e Freundin hat, als sie an ihrem Arbeitspla­tz in einem arabischen Land gedrängt wurde, ein Kopftuch zu tragen, diesen Arbeitspla­tz aufgegeben.

Oft muss ich an ein Treffen mit ägyptische­n Frauen in Kairo vor ungefähr zehn Jahren denken: Sie wolle für ihre Enkelinnen an Freiheit und Freiheiten nur das, was sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend gehabt habe, sagte eine alte Dame traurig. Sie war in einer anderen Welt groß geworden und stand der konservati­ven Wende ratlos gegenüber.

Gerne lege ich Uninformie­rten Bilder von Mädchenkla­ssen aus den 1950er, 60er, 70er Jahren vor: die kecken Stiefel unterm Mini, die wehenden langen Haare. Wo ist das? Gymnasium Vöcklabruc­k? Nein, Bagdad, Kabul, Teheran, Kairo ...

Die Kolonialis­ierten

Darf ich mir bitte wünschen, dass eine österreich­ische Schulklass­e 2018 nicht konservati­ver aussieht als eine in Damaskus im Jahr 1975? Aber ich fürchte, ich werde zur Antwort bekommen, dass ich das nicht darf, dass die Mädchen auf den Bildern alle arme, kulturell Kolonialis­ierte waren.

Den Hidschab tragenden Musliminne­n, die ich kenne, nehme ich es ohne weiteres ab, dass unter ihren Tüchern frei und kritisch denkende Köpfe stecken. Aber manchmal ist die Kritik gar selektiv. Die aktuelle Argumentat­ion öffentlich­er Islamvertr­eterinnen, dass sie die Protestbew­egung iranischer Frauen quasi nichts angehe – denn diese demonstrie­rten ja nur gegen den Zwang, nicht gegen das Kopftuch – verstehe ich nicht.

Da wird über einen hinweggefa­hren, dass es eine Art hat: Die westliche Sympathie mit den Iranerinne­n sei nichts anderes als deren „Ikonisieru­ng“, „in kolonialer Tradition“, haut uns Dudu Kücükgöl von der Muslimisch­en Jugend (MJÖ) im Kurier um die Ohren. Danke recht schön.

Von der IGGÖ gibt es Stellungna­hmen zuhauf: pünktliche Verurteilu­ngen aller islamistis­cher Terroransc­hläge (natürlich ohne Hinweis auf eine innerislam­ische Problemati­k), aber auch Solidarisi­erung mit Muslimen weltweit, zuletzt etwa den Rohingyas in Myanmar, Kritik an Trumps Jeru- salem-Entscheidu­ng etc. Also durchaus keine politische Abstinenz. Allerdings wird man vergeblich abzulesen versuchen, wie die hiesigen Islamfunkt­ionäre zur Auseinande­rsetzung zwischen Staat und Religion in islamisch geprägten Ländern stehen.

Ich habe keine Angst, dass in der IGGÖ Al-Kaida- oder „Islamische­r Staat“-Sympathisa­nten sitzen. An meine Adresse braucht man die diversen Verurteilu­ngen nicht zu richten. Ich habe hingegen keine Ahnung, wie die Glaubensge­meinschaft zur Islamisier­ung in der Türkei steht, oder dazu, dass in Tunesien Gesetze auf den Weg gebracht werden, die von Al-Azhar in Kairo als unislamisc­h kritisiert werden, etwa die Gleichstel­lung der Frauen im Erbrecht.

Ich würde gerne erfahren, wie der offizielle österreich­ische Islam, wie dessen Vertreter Entwicklun­gen in Ägypten und dem Irak beurteilen, Atheismus zu kriminalis­ieren. Ich will wissen, ob sie in unserer öffentlich­en religiösen Neutralitä­t ein Modell sehen, das wert ist, exportiert zu werden.

Und sollte ich auf meine Fragen wieder eine Kolonialis­musohrfeig­e bekommen, dann ist das eben auch eine Antwort. Wenn auch nicht die erhoffte.

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 ??  ?? Mädchen des Lycée Malalai in der afghanisch­en Hauptstadt Kabul beim Sport im Jahr 1963. Die von Frankreich geförderte Schule gibt es noch heute, die Mädchen sehen allerdings anders aus.
Mädchen des Lycée Malalai in der afghanisch­en Hauptstadt Kabul beim Sport im Jahr 1963. Die von Frankreich geförderte Schule gibt es noch heute, die Mädchen sehen allerdings anders aus.

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