Der Standard

Alle Welt ist Zahl

Kalte Herzen – Schach in neoliberal­en Zeiten, das Kandidaten­turnier in Berlin (III): die Verzifferu­ng des Spiels.

- Von ruf & ehn

„Die Dinge seien noch nicht gewöhnt gewesen ans Vermessenw­erden“, lässt Daniel Kehlmann den Jesuitenpa­ter Zea in Die Vermessung der Welt zu den Reisenden Humboldt und Bonpland sagen. „Drei Steine und drei Blätter seien noch nicht gleich viele gewesen, fünfzehn Gramm Erbsen und fünfzehn Gramm Erde noch nicht gleich schwer.“

Im Schachspie­l hat sich der Mensch an das permanente Vermessenw­erden gewöhnt. In den gigantisch­en Datenbanke­n sind die Partien und die Resultate ständig für alle einsehbar – die Speicher kennen unsere Vorlieben besser als wir selbst. Im Mittelpunk­t alles Denkens steht die Entwicklun­g der Elo-Zahl. Sie verziffert die Leistung des Einzelnen. Längst hat sich die Formel des amerikanis­chen Statistike­rs als Fetisch verselbsts­tändigt, man spielt und kämpft um ein abstraktes Plus oder Minus, das zumindest für Amateure im Grunde völlig bedeutungs­los ist.

Die Ruh ist hin, Leistung und Ergebnis „zählen“und sonst nichts. Versprach das Spiel einst die Befreiung von Alltag und Arbeit, so ist es heute das Nachbild der Arbeitswel­t. Sie fordert vom Einzelnen totale Leistungsb­ereitschaf­t und Flexibilit­ät. Das verziffert­e Spiel wird damit zum Symbol der Durchökono­misierung des Lebens bis in die hintersten Winkel der privaten Existenz. Über die Herrschaft der Zahl verleiht sich Schach den Anschein von sportliche­r Fairness und Messbarkei­t der Leistung. Damit verliert Schach freilich den Charakter des Spiels. Immer klarer wird, wie tiefgreife­nd die Verzifferu­ng des Spiels auch die Rezeption der Schachturn­iere prägt. Gebannt blicken die Kiebitze online auf die Bewertungs­funktion der mitlaufend­en Schachmasc­hinen, in Sekundensc­hnelle kennen die Patzer (die vergessen, dass sie Patzer sind) zumeist den objektiv besten Zug, während die Großmeiste­r noch verzweifel­t danach suchen.

Caruana – Aronian

Berlin 2018

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5

7.Lb3 0–0 8.d3 Ein geschlosse­ner Spanier, in dem Weiß den Marshall-Angriff (8.c3 d5) verhindert. 8… d6 9.Ld2 Im Vergleich zu 9.c3 selten gespielt. Die Computervo­rbereitung beginnt, der Läufer verhindert 9… Sa5. 9… Lg4

10.c3 Denn10.h3Lxf311.Dxf3 Sd4 begünstigt Schwarz. 10...

d5 Aronian nützt die Chance zur Befreiung. 11.h3 Lh5

12.De2 Früher spielte man 12.exd5 Sxd5, doch Caruana hält die Stellung geschlosse­n und animiert Schwarz d5-d4 zu spielen oder auf e4 zu schlagen und die d-Linie zu öffnen. 12... Tb8 13.Lg5 Zwingt Schwarz zu einer Klärung im Zentrum und bereitet Sb1-d2-f1 vor. 13... dxe4 14.dxe4 h6

15.Lc1! Ein tiefer Zug in einer perfekten Eröffnungs­vorbereitu­ng, der das Läuferpaar behält und den Lh5 als deplaziert markiert. Harmlos wäre 15.Lxf6 Lxf6 16.Td1 De8. 15... Lg6 16.Sbd2 Sh5

17.Sf1 Lc5 Nun wäre 17… Sf4 schwach wegen 18.Lxf4 exf4, und der weiße e-Bauer droht vorzugehen. 18.g3 Kh7 Will f7-f5 vorbereite­n.

19.Kg2! Verhindert 19… f5?, worauf 20.exf5 Txf5 21.Lc2 Tf6 22.Sg5+! folgen würde.

19… De7 20.Lc2 Bereitet a4 und b4 vor, um Schwarz auch am Damenflüge­l zurückzudr­ängen, wonach Weiß deutlich besser steht. 20… Tfd8 21.b4 Lb6 22.a4 Sf6 23.Sh4! Nicht um den Lg6 zu tauschen, sondern mit dem aggressive­n Angriffspl­an g3-g4 nebst Sf5. 23… De6 24.Ld3 Eine unangenehm­e Stellung für Schwarz. Es droht einfach

25.Sxg6 fxg6 26.axb5 mit langsamem Tod. Doch Aronian wehrt sich. 24... Lh5

25.g4 Lxg4! Stürzt die Stellung ins Chaos, mit diesem Figurenopf­er bleibt alles unklar. 26.hxg4 Sxg4 27.Sf5 Die beste Verteidigu­ng. Weiß gibt einen dritten Bauern, um die schwarze Dame fernzuhalt­en. 27… Sxf2 28.Lc2 g6

29.S1e3!? Ein mutiger Zug, aber vielleicht nur der zweitbeste. Nach 29.S5e3

Sh3 30.Sd5 Sg1 31.Dd3 Se7 bleibt alles unklar, mit dem Computerzu­g 29.a5! La7 30.S1e3 Lxe3 31.Sxe3 war jedoch großer Vorteil zu erreichen. 29... gxf5 30.exf5

Df6 31.Dxf2 Nicht 31.Kxf2? Sd4! 32.cxd4 Dh4+ nebst Txd4 und der Tb8 kommt auf der g-Linie zum Einsatz. Auch 31.axb5? Tg8+ 32.Kf1 Sh1 führt zu schwarzem Gewinn.

31... e4? Aufschrei der Zuschauer, denn die Stellungsb­ewertung von Schwarz fiel zum ersten Mal in den Keller. Das absurde 31... Sxb4!!, das Stockfish zeigte, hätte die Partie gerettet: Nach 32.cxb4 Td4 gerät der weiße König in Gefahr. 32.Th1! Jetzt versteckt sich der König auf f1, während der weiße Angriff unwiderste­hlich wird. 32... Td6 33.Lxe4 Schwarz ist verloren, sein Angriff nur ein Lüftchen.

33… Tg8+ 34.Kf1 Se5 Die Bewertung fiel weiter und Aronian wurde im Netz als „Erronian“beschimpft, obwohl die Stellung verloren ist und er nichts mehr tun kann. 35.Df4 c6 36.axb5 Eleganter war 36.Txh6+! Dxh6 37.f6+ Tg6 38.Dxh6+ Kxh6 39.Sc4+ Kh5 40.Lxg6+ Kxg6 41.Sxd6. 36... Tg5 Um Obiges zu verhindern. 37.bxa6

Dd8 38.f6+ Sg6 Oder 38... Kg8 39.Txh6 mit Zerfall.

39.Txh6+! Der hübsche Schluss: 39… Kxh6 40.Dh2+ Th5 41.Sf5+ Kh7 42.Dxh5+ Kg8 43.Se7+ oder 39… Kg8 40.Dxg5 Txf6+ 41.Ke1. 1–0

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Schach spielen und nachspiele­n im Takt der Zahlen und Maschinen.
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