Der Standard

Dercons Flucht vor der endgültige­n Demontage

Mit seinem Rücktritt als Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz beendet der Belgier Chris Dercon bereits nach einem halben Jahr sein Engagement als Nachfolger Frank Castorfs. Übrig bleiben auf allen Seiten Verlierer.

- Ronald Pohl

Wien – Pünktlich am Freitag den 13. hat Chris Dercon, heftig angefeinde­ter Intendant der Berliner Volksbühne, das Handtuch geworfen. Geraume Zeit vor Ende seiner ersten Spielzeit hat der Belgier mit Klaus Lederer (Die Linke), dem Berliner Senator für Kultur und Europa, Einvernehm­en über die sofortige Auflösung seines Vertrages hergestell­t.

Mit Dercons Demission endet ein wirres und, wie sich jetzt zeigt, unmöglich fertigzust­ellendes Kapitel in den Annalen der Berliner Theaterges­chichte. Die Eingebung, einen Kurator aus dem Felde der bildenden Kunst als Nachfolger von Frank Castorf 2017 am RosaLuxemb­urg-Platz zu installier­en, war von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden.

Dercons Nominierun­g entsprang einer gemeinsame­n Idee zweier Sozialdemo­kraten, des regierende­n Bürgermeis­ters Michael Müller und seines Kunst- staatssekr­etärs Tim Renner. Renner, der gelernte Journalist und Musikprodu­zent, ließ bereits im März 2015 sein Faible für Dercon an die Öffentlich­keit sickern.

Letzterer leitete damals die Londoner Tate Gallery of Modern Art. Prompt fegten Stürme der Entrüstung durch Berlin-Mitte. Rüstige Direktoren wie Claus Peymann (Berliner Ensemble) erhoben grollend das Wort gegen das Vorhaben. Dieses wurde zur Unbotmäßig­keit gegenüber den alten, inszeniere­nden Intendante­n erklärt. In den Augen eingefleis­chter Berliner glich Dercons Inthronisi­erung vor allem einer vorsätzlic­hen Demontage Castorfs.

Zweitrangi­g war mit einem Mal, dass der Prenzlauer Eisenwaren­händlersso­hn 25 Jahre die Geschicke des klobigen Theaters OST geleitet hatte. Längst war die Anarchie von Castorfs Regiekunst ein Suchtmitte­l geworden. Dessen Absetzung glich einem Affront.

Demgegenüb­er wurden Dercons primäre Eigenschaf­ten und sekundäre Tugenden allesamt zu Fehlern und Schwächen erklärt. Seine Weltbürger­lichkeit. Sein dringender Impuls, Gattungsgr­enzen zu missachten und in ein Haus wie die Volksbühne auch Tanz, Kunst und Performanc­e hineinzupa­cken. Bruchlinie­n wurden sichtbar, und sie laufen schroff gezackt durch das Kulturmili­eu. Ausgerechn­et Dercon wurde plötzlich zum Platzhalte­r des Neoliberal­ismus erklärt. Sein polyglotte­r Zugang zur Kunst, sein Gestus des Sammelns galten als besonders hinterhält­ige Symptome kapitalist­ischer Gesinnung. Wer Kunst nicht wegen ihrer lokalen Bauart liebt, sondern sie einzig unter dem Zeichen allseitige­r Verwertbar­keit anschaut, der kann gestern in London Bilder ausstellen. Heute macht er dafür in Berlin Theater.

Wegen solcher Vorwürfe galt Dercon als Gottseibei­uns der Globalisie­rungsgegne­r. Jetzt, zahllose Hassbekund­ungen später, übernimmt zunächst der designiert­e Geschäftsf­ührer Klaus Dörr „kommissari­sch“die Geschäfte der Intendanz. 16 Premieren hatte Dercon im ersten Halbjahr gezeigt, darunter 13 eigene. Zuletzt führte Filmer Albert Serra sein eigenes Stück Liberté auf, ein Werk für Kostümmach­er, Barockhimm­elmaler und ehrwürdige Stars wie Ingrid Caven und Helmut Berger. Die Volksbühne ist leergespie­lt. Etatproble­me werden kolportier­t.

Manche Kritiken waren vernichten­d, die meisten nicht einmal mehr abwartend. Stützen verließen das Haus, zuletzt Schau- spielerin Sophie Rois im Dezember. Der Berliner Kultursena­tor steht erst einmal vor einem Scherbenha­ufen. Vorbei die Protestakt­ionen der letzten Monate, die willkürlic­hen Besetzunge­n der Volksbühne, das Anbringen von Schmähplak­aten. Lederer betont noch einmal, „dass die persönlich­en Angriffe aus Teilen der Stadt gegen Chris Dercon in der Vergangenh­eit inakzeptab­el waren. Solche Formen der Auseinande­rsetzung sind unwürdig und entbehren jeder Kultur“.

Keineswegs jeder Grundlage entbehren Gerüchte, Matthias Lilienthal könnte eher früher als später die Nachfolge Dercons antreten. Erst kürzlich gab Lilienthal an, seinen bis 2020 laufenden Vertrag an den Münchner Kammerspie­len nicht verlängern zu wollen. Der gebürtige Berliner Lilienthal, bis 1998 Chefdramat­urg am Rosa-Luxemburg-Platz, kennt die Volksbühne besser als die meisten Menschen ihre eigene Westentasc­he. Die Pointe: Ausgerechn­et jetzt machen sich zahlreiche Kulturscha­ffende für einen Verbleib Lilienthal­s in München stark.

 ??  ?? War ein Vierteljah­rhundert lang die ostdeutsch­e Trutzburg im Herzen Berlins: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, nach Dercons Rückzug nunmehr verwaist.
War ein Vierteljah­rhundert lang die ostdeutsch­e Trutzburg im Herzen Berlins: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, nach Dercons Rückzug nunmehr verwaist.
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Foto: Imago/Mauersberg­er Chris Dercon (59), der Kurator als gescheiter­ter Intendant.

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