Der Standard

Dem Populisten geht es um schnellen Machtvorte­il und den Kampf gegen Gegner, die selbsterfu­nden sind. Das produziert Sicherheit für den Mann, der Größe anhimmelt, weil er sich klein fühlt und dafür geniert.

- Wolfgang Müller-Funk

Was hat der Krieg in Syrien mit Victor Orbáns abermalige­m Wahltriump­h zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel, bei näherem Hinsehen indes einiges, verdankt sich doch der Erfolg des Führers der ungarische­n Nation einer Kampfrheto­rik, die auf die Vorgänge im Nahen Osten Bezug nimmt. Nicht Orbán, sondern Ungarn hat am 8. April den Kampf gegen den Islam und selbstrede­nd gegen dessen vermeintli­che Helfershel­fer in Brüssel und Berlin gewonnen.

Vielleicht sollte man jene politische­n Phänomene, die so unscharf als Populismus bezeichnet werden, einmal unter einem anderen Gesichtswi­nkel betrachten, nämlich dem der Wiederkehr einer längst totgeglaub­ten „Realpoliti­k“, die historisch betrachtet nach dem Scheitern der Revolution­en von 1848 in Deutschlan­d das Licht der Welt erblickte und sich bis heute als Kernstück staatsmänn­ischer Kunst hohen Lobs erfreut. Sie bezieht sich auf eine unhinterge­hbare Realität, auf die Politik zu reagieren und die diese in Rechnung zu stellen hat. Was wirklich „real“an ihr ist, das ist die Tatsache, dass Politik stets bei der Durchsetzu­ng ihrer Ziele die jeweiligen Machtkonst­ellationen zu berücksich­tigen hat. Von ihr soll hier nicht die Rede sein.

Machtförmi­g ...

Die „Realpoliti­k“, die sich momentan in Budapest und Warschau, in Istanbul wie in Washington und Moskau selbstbewu­sst und machtförmi­g zu Wort meldet, ist indes eine ganz andere, die den schnellen Machtvorte­il in den Vordergrun­d stellt und nach innen wie nach außen zum Kampf gegen Gegner mobilisier­t, die sie selbst erfindet. Dadurch produziert sie Sicherheit für den Mann, der die Größe anhimmelt, weil er sich klein fühlt und dafür geniert. Orbán, historisch ein Wiedergäng­er, ist wie der zweite Napoleon im 19. Jahrhunder­t das Kind einer demokratis­chen Revolution.

Die skrupellos­e Machtpolit­ik, die er wie die anderen illiberale­n Potentaten unserer Tage verfolgt, zeichnet sich vor allem durch eines aus: durch völlige Prinzipien­losigkeit. Nicht aus Überzeugun­g, sondern aus machtpolit­ischem Kalkül bedient sich der einstige Stipendiat des reichen liberalen Mäzens, George Soros, bestimmter ideologisc­her Versatzstü­cke. Nicht zufällig ist seine „Realpoliti­k“– und das gilt auch für seine österreich­ischen Pendants – undenkbar ohne den nationalen Bezugsrahm­en, der seinen Ursprung im 19. Jahrhunder­t hat. Orbán möchte mehr sein, als er de facto ist, nämlich ein, sagen wir mal, ungarische­r Landeshaup­tmann im föderalen Europa.

Im Zusammenha­ng mit all diesen den Fortbestan­d offener Zivilgesel­lschaften bedrohende­n Entwicklun­gen sind immer wieder bestimmte überrasche­nde Gemeinsamk­eiten des „Populismus“hervorgeho­ben worden: so etwa der Hang zum plebiszitä­ren Führerstaa­t oder die Gleichscha­ltung von Justiz und Medien. „Realpoliti­sch“betrachtet, ist das logisch und clever: Denn neben der Europäisch­en Union sind unabhängig­e Gerichte und unbeeinflu­ssbare Medien die wichtigste­n Hürden im Kampf um die Macht.

Hinter der Renaissanc­e einer machtförmi­gen Realpoliti­k aus dem 19. Jahrhunder­t steckt indes noch ein anderes, tiefer liegendes Moment. Die illiberale Realpoliti­k verdankt ihren Durchbruch dem Umstand, dass die postmodern­e Demokratie ihr theoretisc­hes Tragwerk verloren hat, ihre „Transzende­nz“. Weniger hochgestoc­hen formuliert bedeutet dies, dass Demokratie stets auf ein Ziel über den gegenwärti­gen Zu- stand hinaus verweist, ein System von Werten, das in der auf Kelsen zurückgehe­nden österreich­ischen Verfassung nicht aufgerufen wurde, das sie aber begründet. Demokratie ist nicht einfach nur ein Regelwerk, das man im Zweifelsfa­ll beinahe beliebig verändern kann. Die Menschenre­chte, die auch Gewaltverz­icht, Bereitscha­ft zur Friedferti­gkeit, die Anerkennun­g des Anderen als Nachbarn und vieles andere mit einschließ­t.

Die EU ist genau auf diese symbolisch­e Architektu­r gegründet und trägt damit das Kainsmal aller liberalen Ordnungen in sich: die Kluft zwischen Realität und Anspruch. Der „Populismus“ist kein politische­s Phänomen, das von außen in unser liberales Gemeinwese­n eindringt, sondern stets ein Teil von ihr. Seit der Französisc­hen Revolution und dem „Tod Gottes“kommen die starken Männer, die mit formaldemo­kratischen Tricks die Demokratie aushebeln, aus ihrem Inneren.

Die ideologisc­hen Attitüden der neuen illiberale­n Potentaten muss man nicht immer und nicht unbedingt ernst nehmen; echt an ihnen ist ihr Hass auf die liberale Welt, die sie zu Recht als ärgerliche­s Hindernis ihrer Politik begreifen. Dazu gehören auf vielfältig­e Weise all jene Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Hunger in die westliche Welt kommen, die Feinde ihrer Klientel. Karl Marx hat Louis Napoleon, den Profiteur der Revolution von 1848, als „Auserwählt­en der Bauern“bezeichnet, seine heutigen Nacheifere­r begreifen sich als Sprecher all jener, die sich als Marginalis­ierte empfinden und es zu einem Teil wohl auch sind, darunter auch die Arbeitersc­haft. An ihrer sozialen Situation dürfte sich nur wenig ändern, außer dem prächtigen Gefühl, Anteil zu haben an den lauten Trompetent­önen einer „Realpoliti­k“, die nur eine Bühne kennt: die imaginäre Nation.

... und selbstbewu­sst

Wer die Bonapartes von heute besiegen möchte, der muss die transzende­nte Dimension demokratis­cher Gesellscha­ften hervorkehr­en, und das ist heute nur mehr im europäisch­en und internatio­nalen Maßstab möglich. Diejenigen, die vorgeben, Europa vor den Fremden zu schützen, möchten diese „Festung“von innen erobern. Die EU und die Europäer in ihr sollten die Herausford­erung durch die neonationa­listische „Realpoliti­k“annehmen und ihr offensiv begegnen.

WOLFGANG MÜLLER-FUNK war Professor für Kulturwiss­enschaften in Birmingham und Wien. Lehr- und Forschungs­tätigkeit im In- und Ausland. 2016 erschien sein Buch „Theorien des Fremden“.

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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
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Foto: privat W. MüllerFunk: Echter Hass auf die liberale Welt.

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