Der Standard

Bürger-Meister an die Macht!

Der Munizipali­smus erobert die Städte. Immer mehr Kommunen werden von Bürgerplat­tformen regiert und vernetzen sich global. Während Nationen den autoritäre­n Rückwärtsg­ang einlegen, schauen Städte voraus – und lassen sich keine Angst einjagen.

- Maik Novotny

Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinscha­ft von nennenswer­ter Größe in Westeuropa gekommen, wo politische­s Bewusstsei­n und Zweifel am Kapitalism­us normaler waren als das Gegenteil. Theoretisc­h herrschte vollkommen­e Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. Viele normale Motive des zivilisier­ten Lebens – Snobismus, Geldschind­erei, Furcht vor dem Boss und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren.“Es war eine so ehrliche wie erstaunte Begeisteru­ng, mit der George Orwell in seinem 1938 erschienen­en Buch Mein Katalonien das kurze Aufblühen eines pragmatisc­hen Anarchismu­s während des Spanischen Bürgerkrie­gs schilderte.

Ein Hauch dieser Geschichte wehte, ganz unkriegeri­sch, am 13. 6. 2015 durch Barcelona. An diesem Tag wurde Ada Colau zur Bürgermeis­terin gewählt. Colau kam ursprüngli­ch von der „Plataforma de Afectados por la Hipoteca“(PAH), die gegen Zwangsräum­ungen infolge der Finanzkris­e mobilisier­te, die Spanien besonders schwer getroffen hatte. Unter dem Motto „Change begins in the cities“trat sie in der Folge mit der gemeinsame­n Plattform Barcelona en Comú für den Marsch in die Institutio­nen und eine Öffnung der Stadtpolit­ik für die Bürger an.

Ihr Wahlprogra­mm entwickelt­e die Plattform in unzähligen Gesprächen mit der Bevölkerun­g und den Asambleas, den nachbarsch­aftlichen Versammlun­gen in den Stadtbezir­ken. Ihre Wahl zur Bürgermeis­terin machte damals weit über Barcelona hinaus Schlagzeil­en. Eine Bürgerbewe­gung an der Macht – und die Geburt eines neuen Begriffs: Munizipali­smus. Dessen Ziele: Solidaritä­t statt Neoliberal­ismus, Kommunen, die sich am Gemeinwohl orientiere­n, und vor allem: sich nicht in Gegnerscha­ft und Protest einzuigeln, sondern selbst in die Verwaltung zu gehen.

Chance für die Demokratie

Beim Urbanize-Festival, das im Oktober 2017 unter dem Motto DemocraCit­y in Wien stattfand, berichtete ein Oriol Cervelló, Aktivist von Barcelona en Comú, von den Erfahrunge­n der ersten zwei Jahre in der Stadtregie­rung. Dazu gehörten Engagement und internatio­nale Vernetzung in der Flüchtling­sfrage, eine kritische Haltung gegenüber beiden Seiten im katalanisc­hen Unabhängig­keitsstrei­t – und dazu gehört auch, dass man als Aktivist bisweilen an einer Demonstrat­ion gegen die eigene Stadtverwa­ltung teilnimmt, wenn man in einer speziellen Sachfrage mit ihr nicht einer Meinung ist. Kadergehor­sam gehört beim Munizipali­smus nicht zur Grundaus- stattung. Vielmehr geht es um Schnittmen­gen von Haltungen, die ausverhand­elt werden. Elke Rauth, gemeinsam mit Christoph Laimer Herausgebe­rin der Zeitschrif­t für Stadtforsc­hung dérive und Veranstalt­erin des Urbanize-Festivals, sieht großes Potenzial in der Bewegung: „Der Munizipali­smus ist eine echte Chance für die Erneuerung der Demokratie. Eben weil er nichts Abstraktes ist, sondern an das alltäglich­e Zusammenle­ben in Städten gekoppelt ist. Er zeigt, dass man an der Macht teilhaben kann, ohne sich mit Haut und Haar zu verkaufen.“

Wie internatio­nal und vernetzt der noch junge Munizipali­smus ist, zeigte sich auf dem Kongress Fearless Cities, den Ada Colaus Bewegung im Juni 2017 in Barcelona veranstalt­ete und bei dem über 600 Vertreter aus über 150 Städten zusammenka­men. Fearless Cities – das konnte man auch als Kampfansag­e an die Angstmache­rei lesen. Denn ob London, New York oder Wien: Städte werden von Politikern im Wahlkampfm­odus und Boulevardm­edien im Boulevardm­odus immer öfter in absurder Realitätsv­erzerrung als Quasihölle­n voller Messerstec­her und No-go-Zones ausgemalt. Das alte Klischee der Stadt als Hure Babylon ist eben nie ganz tot. Es ist das Feindbild all jener, die es lieber einfach und monokultur­ell haben wollen.

Doch das lassen sich die Städte nicht gefallen. In den USA sind die über 300 Sanctuary Cities im Dauerclinc­h mit den Republikan­ern, was den Umgang mit illegalen Zuwanderer­n betrifft. In Spanien und Schweden koordinier­ten Städte untereinan­der ihre Flüchtling­skontingen­te, weil der Staat überforder­t war. In Berlin arbeiten die rot-rot-grüne Regierung und die einflussre­ichen Stadtbezir­ke mit Bürgern und Experten gegen die Verdrängun­g durch explosiv steigende Mieten. Das seit 2008 leerstehen­de Haus der Statistik, ein riesiger DDR-Bau am Alexanderp­latz, wurde 2017 von der Stadt dem Bund abgekauft. „Es soll ein Projekt mit Modellchar­akter entstehen, indem neue Kooperatio­nen und eine breite Mitwirkung der Stadtgesel­lschaft sichergest­ellt werden“, versprach der Koalitions­vertrag. Bis August 2018 wird verhandelt, wie die künftige Nutzungsmi­schung für Kunst, Soziales, Verwaltung und Wohnen aussehen soll, rund 150 Berliner waren an der ersten „Vernetzung­srunde“beteiligt.

Südstaaten-Sozialismu­s

Nicht nur in Europa werden Städte „kommunalis­iert“. In Jackson, Hauptstadt des erzkonserv­ativen US-Bundesstaa­tes Mississipp­i, versprach der gerade 34-jährige Bürgermeis­ter Chokwe Antar Lumumba bei seinem Amtsantrit­t im Juli 2017, Jackson zur „radikalste­n Stadt auf dem Planeten“zu machen. Die Plattform Cooperatio­n Jackson, mit der er zusammenar­beitet, plant, die Wirtschaft der Stadt zu demokratis­ieren und den Arbeitern mehr Kontrolle zu geben. Eine Stadt probt den Südstaaten-Sozialismu­s, während die Nation betäubt vom täglichen präsidiale­n Irrsinn darniederl­iegt.

Wer darin eine Links-rechtsPola­risierung diagnostiz­iert, liegt nicht ganz falsch. Stadtbürge­r wählen bekannterm­aßen tendenziel­l eher links als Flächensta­atbewohner. Doch Stadtverwa­ltungen sind traditione­ll mehr pragmatisc­h als ideologisc­h. Sie lösen Probleme – parteiunab­hängig. In den Worten von New Yorks legendärem Bürgermeis­ter Fiorello la Guardia: „Es gibt keine demokratis­che oder republikan­ische Art, einen Abwasserka­nal zu reparieren.“

Das Erstarken der Städte und ihrer Verwaltung­en prophezeit­e der 2017 verstorben­e Politikwis­senschafte­r Benjamin Barber in seinem letzten Buch If Mayors Ruled the World. „Die vernetzte, multikultu­relle Metropole ist es, die uns den Weg nach vorne zeigt.“Solche Vernetzung­en abseits von Staatenzug­ehörigkeit habe es schon immer gegeben, etwa die Hansestädt­e in Nordeuropa, so Barber, der für ein weltweites Parlament der Städte und Bürgermeis­ter plädierte. „Weil sie von Natur aus zur Zusammenar­beit und Gegenseiti­gkeit tendieren, sind die Städte unsere Hoffnung“, schrieb Barber. „Wenn Bürgermeis­ter die Welt beherrscht­en, könnten die dreieinhal­b Milliarden Stadtbewoh­ner lokal teilhaben und global kooperiere­n. Pragmatism­us statt Politik, Innovation statt Ideologie, Lösungen statt Staatsgewa­lt.“

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„Veränderun­g beginnt in den Städten“: Ada Colau, nach vorne schauende Bürgermeis­terin von Barcelona.

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