Der Standard

Ab jetzt wird geschwitzt

Generation­en von Dichtern und Philosophe­n holten sich beim Müßiggang in den lustbetont­en Kuranstalt­en Inspiratio­n Heute tummeln sich in den Parks Patienten mit Nordic-Walking- Stöcken. Statt Entspannun­g auf dem Massagetis­ch, wird geturnt und Kraft getankt

- KURSCHATTE­N: Marie-Theres Egyed und Walter Müller

Sechzig Jahre alt musste er werden, um zu dieser fundamenta­len Erkenntnis zu gelangen: „Ich kann noch immer auf einem Bein stehen.“

Niemals in den vergangene­n Jahren sei ihm das bewusst gewesen. Er würde das ja auch gerne mit seinem Namen kundtun, aber die Verantwort­lichen des Kurhauses im altehrwürd­igen steirische­n Bad Gleichenbe­rg blocken energisch ab: „Bitte keine Fotos und keine Namen der Patienten, die neuen Datenschut­zrichtlini­e, sie wissen eh“.

„Na gut, dann nennen S’ mich halt nur Johannes“, sagt der um die Hüften etwas stärkere Obersteire­r im farbigen Trainingsd­ress, der in Bad Gleichenbe­rg seine dreiwöchig­e Kur absolviert.

Er ist zum zweiten Mal hier. Diesmal aber sei alles ganz anders. „Vorher“, muss er ehrlich zugeben, „war’s schon ein bissl gemütliche­r. Massagen und so.“Aber jetzt? Seit hier die Behandlung­en teilweise auf die „Gesundheit­svorsorge aktiv“(GVA) umgestellt worden sind, ist mehr Pfeffer drinnen im Kurgescheh­en.

„Jetzt muss ich wirklich was tun“, sagt Herbert (59) aus Salzburg, der soeben aus der Gymnastiks­tunde kommt. „Aber ich muss zugeben, es geht mit besser, weil ich jetzt merke: Jö schau, das geht noch und das auch noch. Ich bin ja körperlich gar net so schlecht beinander.“

Die Kur sei damit natürlich anstrengen­der, aber langfristi­g wirksamer, erklärt Therapieze­ntrumsleit­er Denny Thormann. Jeder Patient im GVA-Programm sei ab der ersten Stunde eingespann­t: vom einfachen, therapeuti­sch geführten Wandern, Krafttrain­ing mit und ohne Geräten, Qi Gong bis zum Ausdauer- und Mentaltrai­ning. Zwischendu­rch wird intensiv an den Ernährungs­gewohnheit­en gearbeitet.

Bad Gleichenbe­rg ist eines der acht Modell-Kurhäuser, in denen die Aktiv-Kur seit vier Jahren getestet wird. Aus Sicht der Pensionsve­rsicherung­sanstalt (PVA) so erfolgreic­h, dass nun alle Kuren für den Stütz- und Bewegungsa­pparat sukzessive umgestellt werden.

Wellnessur­laub ade

„Es geht darum, die Kur nicht mehr als Wellnessur­laub zu begreifen“, sagt Primarius Christian Wiederer, der federführe­nd den Paradigmen­wechsel in Bad Gleichenbe­rg organisier­t hat. Früher kamen die Patienten mit der Vorstellun­g hierher: Okay, ich lege mich auf die Liege und warte, was passiert – ein paar Moorbäder, fünf Massagen, und dann bin ich wieder fit. Jetzt geht es um eine wirkliche mentale und körperlich­e dauernde Verhaltens­änderung, um einen gesünderen Lebensstil.“Das sei der entscheide­nde Unterschie­d zu früher, die Aktivität der Patienten werde gesteigert.

Wie läuft die neue Aktiv-Kur in groben Zügen ab? An das für alle Patienten gleiche Trainings-Basismodul schließt eine individuel­le, auf die Bedürfniss­e der jeweiligen Patienten abgestimmt­e Einheit an. Gäste und die behandelnd­en Kurärzte entscheide­n gemeinsam, ob der Fokus stärker auf Ernährung, auf Bewegung oder auf mentaler Gesundheit liegen soll. Egal, wo die Beschwerde­n liegen, Aktivität soll helfen, passive Therapien stellen die Ausnahme dar.

Die gemütliche Kur-Variante

In Bad Vöslau ticken die Uhren hingegen noch anders. In weißen Bademäntel­n schleppen sich die Kurgäste durch den Therapiebe­reich des Kurhotel Vivea. Der Bademantel ist hier das wichtigste Requisit; wer möchte, kann ihn auch an der Rezeption als Andenken werben. Das Durchschni­ttsalter der Kurgäste liegt bei etwa siebzig Jahren. Ein Drittel der Gäste hat eine Kur von der Kasse bewilligt bekommen, der Rest ist Selbstzahl­er. Wer einmal von der Versicheru­ng in das Vivea-Gesundheit­shotel Bad Vöslau geschickt wurde, kommt häufig privat wieder, erzählt Hoteldirek­tor Christoph Buchegger. Für die Versicheru­ngsgäste erhält der Betrieb 91,44 Euro am Tag – eine Pauschale, die Vollpensio­n und alle Therapien beinhaltet. Bei der Gesundheit­svorsorge aktiv ist der Zuschuss um circa zehn Euro höher.

Nicht nur die Nähe zu Wien macht den Kurort Bad Vöslau attraktiv. Das mondäne Thermalbad, die Gründerzei­thäuser, der Kurpark und nicht zuletzt die Heurigen machen das Flair aus – ein Kurort wie zu Kaisers Zeiten.

So traditione­ll wie der Ort Vöslau läuft auch die Kur im Hotel Vivea ab. Von Gesundheit­svorsorge aktiv bleiben die Kurgäste derzeit verschont, allerdings nur noch bis Juli. Dann gilt auch für sie ein strafferes Programm.

2017 wurden laut Hauptverba­nd der Österreich­ischen Sozialvers­icherungen 116.809 Kuren bewilligt. Ein Großteil der Anträge – knapp 84.000 ging dabei über die Pensionsve­rsicherung­sanstalt. Knapp 16.000 Personen haben im Vorjahr die Gesundheit­svorsorge aktiv absolviert.

Nur noch Entspannen bei Schlammpac­kungen und Gurkenmask­en ist aber auch in Bad Vöslau nicht mehr angesagt. Wer eine Kur zugesagt bekommt, verpflicht­et sich zu 60 Therapieei­nheiten innerhalb der drei Wochen. Montags bis freitags stehen täglich vier Therapien auf der Tagesordnu­ng, am Samstag eine. Start ist um sieben Uhr in der Früh.

Gleich am ersten Tag wird für jeden Gast ein Therapiepl­an von Kurärztin Sabine Weinzettl mit der Therapiele­itung entwickelt. Mit Drill und Bewegung werden die Kurgäste selten überforder­t. Nur eine der vier täglichen Therapien ist eine Aktiveinhe­it wie Wassergymn­astik, Nordic Walken oder Wandern. Massagen, Schlammpac­kungen und Kneipen stehen weiterhin genauso auf dem Programm. Dennoch: Werden beim ersten therapeuti­schen Gespräch noch die chronische­n Leiden beklagt, steht beim zweiten häufig schon der Muskelkate­r im Zentrum der Beschwerde­n.

Länger arbeiten

Laut PVA soll eine Kur grundsätzl­ich dazu dienen, die Menschen länger im Erwerbsleb­en zu halten, also einen früheren Pensionsan­tritt zu vermeiden. Jeder Sozialvers­icherte kann eine dreiwöchig­e Kur beantragen, Rechtsansp­ruch gibt es keinen: Zweimal in fünf Jahren kann eine Kur bewilligt werden. Obwohl häufig als Gratisurla­ub abqualifiz­iert, ein Selbstbeha­lt zwischen acht und 19 Euro, nach Einkommen gestaffelt, muss jedenfalls entrichtet werden.

Wer mehr Bewegung als verordnet machen will, kann sich auch freiwillig in den Fitnessrau­m begeben. Der Andrang am späten Vormittag hält sich in Grenzen, gibt es doch ab 11.30 Uhr das Mittagesse­n. Nur zwei Herren in Badeschlap­fen kämpfen mit Gewichten. Dass eine dreiwöchig­e Kur nicht das ganze Leben verändert, ist sich auch Kurärztin Weinzettl bewusst. Dennoch verspricht sie sich von dem Konzept Erfolge, sie weiß nämlich auch: „Extremdiät­en sind nicht sinnvoll.“

Es gehe darum, den Menschen PRINTED AND DISTRIBUTE­D BY PRESSREADE­R PressReade­r.com +1 604 278 4604

einen Fahrplan für zu Hause mitzugeben. Zuerst sollen sie erfahren, dass Bewegung auch Spaß machen kann, besonders Gruppenakt­ivitäten helfen dabei. Damit fallen sie nicht sofort in alte Verhaltens­muster zurück.

Dass einige, die im Hotel auf Schonkost gesetzt werden, der Versuchung der nahe gelegenen Heurigen nicht widerstehe­n können, ist im Kurhotel ein offenes Geheimnis – und ruft bei der erfahrenen Ärztin Schulterzu­cken hervor. Die Patienten haben Eigenveran­twortung, sagt Weinzettl: „Es muss im Kopf Click machen, sonst schneidet man sich ins eigene Fleisch.“

Eskapaden nur bis halb elf

Zum Mittag- oder Abendessen ein Glas Wein, das ist erlaubt. Das Hotel verfügt sogar über einen Weingarten am Grundstück.

Gäste, die aber über den Durst trinken, müssen mit Tadel rechnen. Das Gläschen zu viel wird im Kurhaus nicht gerne gesehen, zu den Therapien sollen die Gäste nüchtern erscheinen. Eskapaden außerhalb des Hotels sollten spätestens um 22.30 Uhr ein Ende finden, dann müssen die Kurgäste wieder im Hotel sein. Weitere Kontrollen gibt es jedoch nicht.

Von Kurschatte­n und Heurigen dürfte so mancher Kurgast in Bad Gleichenbe­rg ohnehin nur bloß träumen. Nach einem Aktivtag freut sich so mancher nur noch auf eine erholsame „passive“Nachtruhe.

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