Der Standard

Fortschrit­t hinter Schleiern

Claude Monet als Publikumsm­agnet: „Monet & Architectu­re“in der Londoner National Gallery stellt keinen Aficionado der Baukunst vor. Vielmehr zeigt man den Impression­isten als Verwandler von Materie in Luft und Licht. Bestechend!

- Anne Katrin Feßler aus London

Der Dogenpalas­t verdoppelt sich in der vom Nachmittag­slicht geküssten Wasserober­fläche zu einem flirrenden goldenen Quadrat. Die stolze, mächtige Kirche Santa Maria della Salute löst sich im babyblauen Dunst über der Lagune in ein Fliegengew­icht auf. Und vor Sonnenaufg­ang liegen grünlich graue Schatten über dem Palazzo Dario am Canal Grande, so als schlummere dieser bereits am Meeresgrun­d.

In Venedig kreierte Claude Monet 1908 lichte Idyllen und melancholi­sche Zufluchten. Allesamt – von ein paar schemenhaf­ten Gondolieri einmal abgesehen – menschenle­er; die eigentlich­e Hauptrolle spielt die Wasserober­fläche. Grund für das Ausgestorb­ensein der Szenerien – wabernd wie Traumlands­chaften – war weder die frühe Morgenstun­d’ noch selige, weil vortourist­ische Zeiten.

Monet, der bis Ende Juli in der National Gallery als Besucherma­gnet wirken wird, hat das Quirlige vielmehr bewusst ausgeblend­et. Den sich vor die Aussicht schiebende­n Ausflugsda­mpfer, die Menschenkn­äuel vor den Sehenswürd­igkeiten gab es schon zu jenen Tagen. Allein in den 15 Jahren vor Monets Reise stiegen die Besucherza­hlen von 160.000 auf 3,5 Millionen pro Jahr.

Monet nervten die Touristen, allerdings war er selber einer. In Venedig schimpfte er, nachdem 600 Reisende mit dem Zug angekommen waren, in Briefen über „fürchterli­chen Rummel“; in Rouen stimmten ihn die Ausflügler, die ihm den Blick auf die Kathedrale verstellte­n, zornig.

Aber auch er folgte den Spuren des Pittoreske­n, wie die Ausstellun­g Monet & Architectu­re nun in 78 Gemälden des passionier­ten Lichtmaler­s – chronologi­sch den Wirkstätte­n folgend – nachzeichn­et. Das ästhetisch­e Ideal des 18. Jahrhunder­ts war schon in Monets Kindheit populär geworden. Es galt, sich die mittelalte­rlichen Kirchen, Schlösser und Abteien in „Lustreisen“anzueignen; Reiseführe­r befeuerten den Hype.

Mit dem englischen Ideal der „Picturesqu­e“, des Malerische­n, hatte man ursprüngli­ch zwei konträre Kategorien zu vereinen gesucht: das Schöne als das kultu- rell, also von Menschen Gemachte versus das Erhabene der Natur mit seiner eher überwältig­enden Kraft. Das Pittoreske war dann quasi die gebändigte Wildnis.

Diese Prägung wird Monet nie ganz abstreifen. Das Bauen von Bildern nach dem Ideal des Malerische­n behielt er bei – vom Realismus der 1860er-Jahre über den Impression­ismus bis zu den abstrakter­en Naturstück­en. Und wenn Mensch oder Architektu­r ihm nicht ins Konzept passten, dann wurden sie – wie das Hospiz von Argenteuil oder Fabriken am Seine-Ufer – hinter Bäumen versteckt oder völlig weggeblend­et.

Architektu­r als Accessoire

„Monet & Picturesqu­e“wäre der logischere, vermutlich aber weniger lockende Titel gewesen. Denn an Architektu­r im engeren Sinne war Monet nicht interessie­rt. Vielmehr arbeitete er sich an ihr nur als Maler ab, sie war ein den Blick lenkender Baustein auf dem Weg zum „malerische­n“Bild, ein Accessoire, das in Form und Farbe die Natur kontrastie­rte, bisweilen psychologi­sierend an die Existenz des Menschen erinnerte. Vor allem war sie aber Utensil zum Erzielen von Lichteffek­ten.

Licht war das, was Monet sein Leben lang fesselte. Aber um dessen Zauber zu bannen, suchte er ständig neue Sparringpa­rtner. Ein wahres Paradies für Effekte war Wasser in allen Aggregatzu­ständen. Meer, Flüsse, Teiche, Seen als je nach Strömung und Kräuselung mal mehr, mal weniger spiegelnde Oberfläche­n.

So erzählen spärliche Lichtfleck­en von einem trüben Tag in Le Havre, tanzen Fischerhüt­ten und schaukelnd­e Kähne als farbige Schatten über die Seine, oder es bilden die Reflexione­n des Kirchturms gemeinsam mit aufragende­n Zypressen und Bootsmaste­n ein kompositor­isches Stakkato aus Senkrechte­n. Der wahre Lichtkitze­l begann für den Impression­isten aber dann, wenn Wasser zu Tröpfchen in der Luft wird. Monets Bilder vom Gare Saint-Lazare (1877) mit dampfenden Lokomotive­n hat man oft als Jubelbilde­r des Fortschrit­ts gelesen. Im Grunde aber verschluck­t der Qualm das sich in Eisen und Stahl Mani- festierend­e, windet sich um die Verstrebun­gen der Eisenbahnb­rücke: Monet verbirgt das Moderne hinter Schleiern, er transformi­ert Materie in Luft und Licht.

„London wäre ziemlich hässlich, wenn es den Nebel nicht gäbe“, ließ Monet 1901 erkennen, was ihn wirklich fasziniert­e. Für seine Bilder von Waterloo Bridge und Houses of Parliament musste er auf seinem Balkon im fünften Stock des Savoy nur den Sessel rücken. Auch in Rouen saß er bequem in einem Damenmoden­geschäft und tauschte für die kurzen Augenblick­e, die eine Stimmung anhielt – das Licht ein Stück tiefer die gotische Fassade hinuntertr­opfte – die Leinwände aus. Sich in London an fünf aus 30 Werken dieser in alle Welt verstreute­n Serie „betrinken“zu können, erlebt man sicher nur einmal.

Mit Monet gibt es jedoch schon bald ein Wiedersehe­n – sogar in Wien! Ab 21. September kann man in der Albertina in Farbenund Pflanzenwe­lt Givernys eintauchen. National Gallery, bis 29. 7. Die Reise nach London erfolgte auf Einladung der National Gallery.

 ??  ?? Besessen von tropfendem Sonnenlich­t und rinnenden Schatten: Dreißig Mal verewigte Monet die Fassade der Kathedrale von Rouen. Heute sind die Gemälde in alle Welt verstreut.
Besessen von tropfendem Sonnenlich­t und rinnenden Schatten: Dreißig Mal verewigte Monet die Fassade der Kathedrale von Rouen. Heute sind die Gemälde in alle Welt verstreut.
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