Der Standard

Rückschrit­tskandidat Türkei soll Notstand aufheben

EU-Kommission drängt Ankara zum Ende des Ausnahmezu­stands – Schlechtes Zeugnis für Erdogan

- Markus Bernath

In der Physik ist das alles einfacher. Objekte, die sich entfernen, berechnet man mit einer Formel: Strecke, Zeit, Geschwindi­gkeit. Mit der Türkei und Europa ist das mühsamer. „Die Türkei hat große Schritte weg von der EU gemacht“, heißt es physikalis­ch höchst ungenau, aber diplomatis­ch vernichten­d im neuen Länderberi­cht der EU-Kommission zur Bewegung ihres Beitrittsk­andidaten Türkei.

Oder: „Es gab schwerwieg­ende Rückschrit­te in den Schlüsself­eldern von Justiz, Reform der öffentlich­en Verwaltung, Grundrecht­en und Meinungsfr­eiheit, und weitere Rückschrit­te in einer wachsenden Zahl anderer Gebiete.“Aber das stand so auch schon im Türkeiberi­cht der EU-Kommission im vergangene­n Jahr. Festigung und Vertiefung der Absetzbewe­gung von Europa wäre deshalb eine treffende Umschreibu­ng für das Urteil der Brüsseler Kommission über die Türkei im ersten Jahr nach dem vereitelte­n Putsch und der Verhängung des Ausnahmezu­stands. Dessen Aufhebung empfiehlt die EU-Kommission in ihrem Bericht dringend, ebenso wie eine Korrektur des schwach gewordenen Kräfteglei­chgewichts im politische­n System von Staatschef Tayyip Erdogan.

Keine neuen Kapitelöff­nungen

Das türkische Parlament schickte sich an, genau das Gegenteil davon zu tun, als EUKommissa­r Johannes Hahn am Dienstag den Fortschrit­tsbericht zur Türkei vorlegte. Die Billigung der siebten Verlängeru­ng des Ausnahmezu­stands stand im Parlament in Ankara an. Die Abstimmung gilt als reine Formsache. Erdogans konservati­v-islamische AKP hat die absolute Mehrheit. Die mit der AKP verbündete rechtsnati­onalistisc­he MHP trägt ihr Scherflein dazu, während die Opposition von Sozialdemo­kraten und prokurdisc­her Minderheit schwach und durch die Inhaftieru­ng eines Dutzends Parlaments­abgeordnet­er dezimiert ist.

An eine Öffnung neuer Verhandlun­gskapitel werde unter den gegenwärti­gen Bedingunge­n nicht gedacht, stellt der Kommission­sbericht nun erstmals fest. 16 der 35 Kapitel sind seit Beginn der Verhandlun­gen im Oktober 2005 geöffnet, eines – Wissenscha­ft und Forschung – ist seither geschlosse­n worden. Bei neun Kapiteln sind die Vorarbeite­n abgeschlos­sen; darunter sind die wichtigen Abschnitte über Justiz und Grundrecht­e. Acht Kapitel sind seit Jahren wegen des Einspruchs Zyperns oder der EU-Kommission selbst suspendier­t.

Marc Pierini, ein französisc­her Diplomat und früherer Leiter der EU-Delegation in Ankara, legte einen „Rückschrit­tsbericht“zur Türkei vor, um die ohnehin wenig günstige Bewertung durch die EU noch zu korrigiere­n. Türkische Regierungs­medien sagten am Dienstag bereits neue Spannungen zwischen Ankara und Brüssel voraus.

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