„Der einzige Sinn ist, die Dummheit zu bekämpfen“
Wie Nationalismus und Stereotype historisch gewachsen sind, damit beschäftigt sich der Literaturwissenschafter Joep Leerssen von der Universität Amsterdam.
Was dachten die Franzosen über die Engländer im 19. Jahrhundert? Welche Metaphern gebrauchen ungarische Schulbücher, um die eigene und andere Nationen zu beschreiben? Was wird in Italien als deutsche Musik beschrieben? Fragen wie diese beschäftigen die Imagologie. Das junge Forschungsfeld widmet sich der Untersuchung von Stereotypen. Analysiert werden Vorurteile und Klischees, die bestimmten Gruppen entgegengebracht werden. Da sich diese mit der Zeit verändern und stark von der Perspektive abhängen, arbeitet man meist vergleichend und historisch.
Aus der Vergleichenden Literaturwissenschaft hervorgegangen, sind Texte – Literatur, aber auch Geschichtsbücher, Briefe oder Amtsdokumente – zentraler Untersuchungsgegenstand der Imagologie. Traditionell ging es vor allem um nationale Stereotype, doch in jüngerer Zeit werden etwa auch Kriterien wie Gender, Rassisierung oder Klasse betrachtet. Diese Entwicklung trat jüngst bei der Konferenz „Neue Perspektiven der Imagologie“zutage, die von der Abteilung für Komparatistik der Universität Wien organisiert wurde.
Diese fand im Wiener Volkskundemuseum statt, wo ein Ölgemälde hängt, das immer wieder angeführt wird, wenn nach einer Definition von Imagologie gefragt wird: die Steirische Völkertafel. Im 18. Jahrhundert entstanden, sollte sie eine „Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Aigenschafften“bieten. In Form einer Tabelle ist hier etwa nachzulesen, die Schweden seien von grausamem Charakter und verbrächten ihre Zeit mit Essen; die Engländer seien weltweise, rastlos und am ehesten mit dem Pferd zu vergleichen; die Spanier hätten den besten Gottesdienst, viele Früchte und liebten Ruhm.
Zwei Stockwerke über der Völkertafel sprach Joep Leerssen über seine Forschung im Bereich Nationalismus. Der an der Universität Amsterdam tätige Literaturwissenschafter hat die Imagologie nachhaltig geprägt und betont im Gespräch mit dem STANDARD ihre Wichtigkeit angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen.
STANDARD: Sie beschäftigen sich kulturwissenschaftlich mit dem Aufkommen des Nationalismus. Wie geht man als Forscher an so große und länderübergreifende Forschungsfragen heran? Leerssen: In den Geisteswissenschaften geht man oft von konkreten Beobachtungen aus, zum Beispiel: Warum haben sich im 19. Jahrhundert die Deutschen und die Franzosen so angemotzt, und was hatte das für eine Rhetorik? Und dann braucht man Theorie; die Erklärung, weshalb man bestimmte Sachen wichtiger findet als andere. Auf dieser Basis gelangt man zu grundlegenden Fragen. Anfangs gab es Leute, die wollten wissen: Wie sehen die Deutschen die Franzosen? Wie sehen die Engländer die Spanier? Das wurde literaturgeschichtlich inventarisiert, und es kamen Allgemeinmuster zum Tragen: Den Norden sieht man eher kühl und rational, den Sünden eher passioniert. Man kam allmählich zu breiteren Hypothesen.
STANDARD: Wie kommt es überhaupt zu Sterotypen? Leerssen: Es gehört zur menschlichen Handhabung der Komplexität der Welt, dass wir uns Muster kreieren. Wir brauchen Vereinfachung, aber die muss man auch auf Schritt und Tritt durchbrechen. Wenn die Wissenschaft als Beruf und Berufung irgendeinen Sinn hat, dann ist es der, dass man die Dummheit bekämpft.
STANDARD: Soeben ist Ihre „Enzyklopädie des Romantischen Nationalismus in Europa“in Buchform erschienen. Im Internet kann man diese unglaublich große Sammlung an Dokumenten, Briefen, interaktiven Karten und Artikeln schon länger einsehen. Was ist das Ziel? INTERVIEW:
Leerssen: Die Enzyklopädie hat mich mehr als ein Jahrzehnt beschäftigt. Mehr als 350 Autoren haben daran gearbeitet, von Island bis Aserbaidschan. Meist wird Nationalismus durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Verhältnisse erklärt, und die Kultur wird als bloße Begleiterscheinung gesehen. Mit dieser neuen Enzyklopädie wollen wir erreichen, dass in Zukunft die Wirkung der Kultur in der Erforschung des Nationalismus einbezogen wird und dass er aus supranationaler Sicht betrachtet wird. Dazu war ein Handbuch notwendig.
STANDARD: Wann begann man von „Imagologie“zu sprechen? Leerssen: Der Begriff kam in der Literaturwissenschaft zusammen mit der Nationalismusforschung nach 1945 auf. Die Leute haben bemerkt, dass der souveräne, unilaterale Nationalstaat nicht sämtliche Probleme gelöst, sondern im Gegenteil verheerende Kriege ausgelöst hat. Nach dem Pariser Friedensabkommen 1918 und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fragten sich Gelehrte, woher dieser Völkerhass kommt und was man dagegen tun kann. Beide Disziplinen sind aus der Notwendigkeit der Völkerverständigung gewachsen. In den 1950er- und 1960erJahren ist die Imagologie aus dem Literaturwissenschaftlichen herausgewachsen.
STANDARD: Die Konferenz in Wien trug den Titel „Neue Perspektiven der Imagologie“. Wie entwickelt sich das Feld? Leerssen: Die Imagologie ist eine Methode, man kann sie auf verschiedene Gebiete anwenden. Wir sind derzeit in einem Schneesturm und sehen nur die Flocken um uns herum. Wo der Schnee liegen bleibt und wo es Lawinen geben wird, kann man noch nicht sagen. Die Imagologie ist aufgewachsen in einem Europa, das aus Einzelstaaten bestand, die ihre Feindschaft überwinden mussten und dabei