Der Standard

„Der Prater ist ein extrem urbaner Ort“

Ökologisch denken in Metropolen bedeutet weit mehr als Urban Gardening, sagt die Architekti­n Sandra Bartoli. Es gehe darum, die Stadt so weit wie möglich als geschlosse­nen Kreislauf von Ressourcen zu verstehen.

- INTERVIEW: Maik Nowotny

Der Gegensatz von Stadt und Land wird heute mehr denn je thematisie­rt. Hier Mobilität, Lärm, Zivilisati­on, dort Ruhe, Natur, Zersiedelu­ng. Bei Sandra Bartoli scheint es in die andere Richtung zu gehen: zu einer Aufhebung der Gegensätze. Die italienisc­he Architekti­n hat eine Stiftungsp­rofessur an der Akademie der bildenden Künste inne, die sie unter das Motto „The City’s Future Natural History“gestellt hat. Das wirft, nicht unbeabsich­tigt, einige Fragen auf.

STANDARD: Sollen wir zurück zur Stadt der Selbstvers­orger? Oder geht es um ein romantisch­es Ideal der Stadtlands­chaft? Bartoli: Beides! Es geht sowohl darum, die Stadt nicht nur als Ort der Konsumptio­n, sondern auch als Ort der Produktion von Ressourcen zu begreifen. Da ist Urban Farming auch im kleinsten Maßstab ein durchaus interessan­ter Ansatz. Und es geht darum, die Stadt als Lebensraum aller Spezies zu verstehen: vom Pilz bis zum Menschen. Die Artenvielf­alt ist heute in der Stadt vielfach höher als auf dem Land. Das kann man romantisch finden, aber ich denke, daraus resultiert auch eine planerisch­e Verantwort­ung, wie wir sie auch an der Akademie zu thematisie­ren versuchen.

Standard: Haben Sie den Prater in Ihrer Stiftungsp­rofessur in Wien thematisie­rt? Bartoli: Das tun wir gerade. Die Studierend­en sind gerade jede Woche dort, gemeinsam mit unterschie­dlichen Experten. Der Prater ist ein extrem urbaner Ort, hier existieren mehrere Spezies nebeneinan­der, Pflanzen, Tiere, Menschen. Anders als der Berliner Tiergarten, der klar umrissen ist, hat der Prater etwas Ausufernde­s, er ändert sich vom Praterster­n hin zur Wildnis am anderen Ende. Sogar gesetzlich ist er sehr heterogen. Auch damit beschäftig­en sich die Studierend­en.

Standard: Was kann man aus der Analyse

lernen?

Bartoli: Es ist ein Paradox: Das eigentlich­e Land wird immer kontrollie­rter und unnatürlic­her, während die Natur in die Stadt zurückkehr­t und komplexer und reicher wird. Das bedeutet: Wir brauchen einen anderen Blick, andere Paradigmen. Wir brauchen diese Naturreser­vate und können sie in der Zukunft noch radikaler, noch utopischer denken, die Stadt offener und wilder werden zu lassen. Es geht auch nicht um eine komplett freie Natur, sondern um die Überlappun­g von Stadt und Natur. Warum kann Autobahn nicht ein ökologisch­er Grünzug sein? Was, wenn wir auch andere Spezies in die Planung mit einbeziehe­n? Stadt und Ökologie, das ist viel mehr als Urban Gardening. Es geht darum, die Stadt so weit wie möglich als einen geschlosse­nen Kreislauf von Ressourcen zu denken.

Standard: Sie arbeiten als Architekti­n und Landschaft­sarchitekt­in. Beschränkt sich die Rolle der Planer darauf, diese Stadt-Natur in Ruhe wachsen zu lassen, oder soll man sie steuern und in sie eingreifen? Bartoli: Beides. Es geht darum, zu schauen, was es gibt, und das zu unterstütz­en. Dazu reichen schon minimale Eingriffe. Das tun wir auch im Prater: verstärken, polarisier­en. Es geht auch darum, eine andere Stadtwahrn­ehmung zu schulen, eine, die weniger auf den Menschen zentriert ist. Das ist auch nichts Neues, schon viele haben sich damit beschäftig­t.

Standard: Zum Beispiel?

Bartoli: Vor allem in den 1970er-Jahren gab es einige sehr radikale Projekte, die heute fast vergessen sind. Etwa das Baumhaus, das der deutsche Architekt Ot Hoffmann 1970 in Darmstadt realisiert­e und das inzwischen zu einer Einheit von Architektu­r und Vegetation geworden ist. Aber es gibt auch strukturel­lere Beispiele wie die Biotopenka­rtierung in Berlin von 1984. Der erste Versuch einer Verwaltung, die Stadt in ihrer Gesamtheit als Biotop zu beschreibe­n – inklusive der dicht bebauten Areale – und mit einem Maßnahmenk­atalog zu verbinden. Dieser Plan ist baurechtli­ch bis heute wirksam, auch wenn in den letzten beiden Jahrzehnte­n eine Art Backlash zu verzeichne­n ist.

Standard: In Ihrer Arbeit ist viel von Spezies, vom Anthropozä­n die Rede. Gibt es ein Naheverhäl­tnis zur Biologie? Bartoli: Ja, und auch hier gibt es interessan­te Vorläufer. Die Reformbewe­gungen um 1900 haben schon sehr ganzheitli­ch biologisch gedacht, haben Kunst, Wissenscha­ft und Philosophi­e produktiv vermischt. Es gibt allerlei vergessene Traditione­n, Versuche einer anderen Art der Moderne, einer, die sich nicht als Gegenpol zur Natur versteht.

Standard: Wie die um 1900 von Ebenezer Howard initiierte Gartenstad­t-Bewegung? Bartoli: Auch, aber das war eine ambivalent­e Sache, die Stadtideal­e der Gartenstad­tBewegung waren sehr reguliert, sehr strikt. Die Gartenstäd­te, die umgesetzt wurden, haben sich ganz anders entwickelt. Diese Realität ist viel interessan­ter als die abstrakte Planung.

Standard: Sie haben sich mit Ihrem Büro für Konstrukti­vismus unter dem Titel „Architektu­r in Gebrauch“mit solchen Realitäten analytisch beschäftig­t.

Bartoli: Das entstand aus unserer Neugier für Orte, an denen man Veränderun­gen beobachten kann. Das finden wir interessan­ter als Architektu­r, die im perfekten unberührte­n Moment ihrer Fertigstel­lung fotografie­rt wird. Wir haben uns beispielsw­eise mit der Stadtautob­ahn in Manchester beschäftig­t, eigentlich ein brutaler ingenieurt­echnischer Eingriff, aber heute ein erstaunlic­h lebendiger Ort, an dem sehr viel Ungeplante­s passiert ist. Der Begriff des Gebrauchs ist enorm reichhalti­g, er erlaubt, die Realität zu artikulier­en, anders zu lesen. Das bedeutet nicht, dass gute architekto­nische Gestaltung nicht mehr relevant wäre, im Gegenteil. Wir haben eine große Liebe zur Form.

Standard: Die Stiftungsp­rofessur beschäftig­t sich mit „visionären Formen der Stadt“. Die „Vision“ist heute ein oft missbrauch­ter Begriff. Was verstehen Sie darunter?

Bartoli: Die Aufgabe von Architektu­r ist es immer, sich mit der Zukunft zu beschäftig­en. Wir planen für das, was wir noch nicht kennen. Aber genauso wichtig ist es, sich mit der Vergangenh­eit zu beschäftig­en, das tun wir auch in der Forschung und Lehre, wo wir uns mit historisch­en Beispielen beschäftig­en. Unsere Aufgabe ist es, die Zukunft zu formen, anstatt uns mit hohlen Begriffe wie Nachhaltig­keit zu begnügen und Greenwashi­ng zu betreiben. Die Definition von Nachhaltig­keit, die ursprüngli­ch aus der Wirtschaft kommt, muss immer wieder neu diskutiert und geklärt werden.

Standard: Sie haben 2007 gemeinsam mit Ihrem Büropartne­r Silvan Linden und drei weiteren Redakteure­n das Magazin „Die Planung / A Terv“herausgege­ben, dessen Veröffentl­ichungsdat­en größtentei­ls in der Zukunft liegen. Wie darf man das verstehen? Bartoli: Ja, wir haben Wissenscha­fter, Künstler und Architekte­n eingeladen, sich Szenarien auszudenke­n, und drei Hefte gemacht. Das erste war 2011 datiert, 25 Jahre nach Tschernoby­l, das zweite 2036 und das dritte 2048, 200 Jahre nach dem Kommunisti­schen Manifest. Die Ergebnisse waren sehr interessan­t, die 2048-Szenarien waren purer Orwell!

Standard: Die Dystopie ist offensicht­lich fasziniere­nder als die Utopie. Bartoli: Weil sie offener ist als die Utopie. Dystopien beinhalten eine große Freiheit.

Standard: Städte, die zur Wildnis werden, futuristis­che Biologien: Ist das, was Sie machen, im besten Sinne Science-Fiction? Bartoli: Definitiv. Science-Fiction liefert uns so viele Anreize und Werkzeuge, um unsere Routine zu durchbrech­en, um Raum und Geschichte als Archäologi­e der Zukunft zu denken. Das gebe ich auch als Anreiz an die Studenten weiter. Es ist eine andere Art, Architektu­r zu erzählen. Wenn wir nur kleine Parameter ändern, ergeben sich radikale Zukunftssz­enarien.

SANDRA BARTOLI, geboren 1967 in Cortina d’Ampezzo, lebt und arbeitet als Architekti­n in Berlin. Zusammen mit Silvan Linden betreibt sie das Architektu­rbüro „Büro für Konstrukti­vismus“. 2009 bis 2015 arbeitete sie als Forschungs­assistenti­n an der Technische­n Universitä­t Berlin, 2015 bis 2017 Gastprofes­sur an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. 2017/2018 hat sie die von der Stadt Wien seit 2015 vergebene Stiftungsp­rofessur für „Visionäre Formen der Stadt“an der Akademie der bildenden Künste Wien inne.

 ??  ?? Sandra Bartoli, Stiftungsp­rofessorin an der Akademie der bildenden Künste, thematisie­rt mit ihren Studenten Grünräume in der Stadt.
Sandra Bartoli, Stiftungsp­rofessorin an der Akademie der bildenden Künste, thematisie­rt mit ihren Studenten Grünräume in der Stadt.
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Klar umrissener Stadtteil Tiergarten in Berlin: Die Natur kehrt in die Stadt zurück, sagt Sandra Bartoli.

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