Der Standard

Ein Pilz, die Erde und das Kapital

Der Wildpilz Matsutake steht im Zentrum eines Buches der Anthropolo­gin Anna Tsing. Für ihre Forschunge­n hat sie mehrfach die Welt umrundet und nun eine hochgradig interdiszi­plinäre Studie verfasst.

- Bert Rebhandl

In einem spartanisc­h-einsiedler­isch anmutenden Büro im Max-Planck-Institut für Wissenscha­ftsgeschic­hte in Berlin sitzt die Anthropolo­gin Anna Tsing und studiert ein Dokument über den Mississipp­i. Ein paar Tage zuvor war sie noch in Wien, wo sie am Internatio­nalen Forschungs­zentrum Kulturwiss­enschaften der Kunstunive­rsität Linz (IFK) die deutsche Übersetzun­g ihres Buchs Der Pilz am Ende

der Welt vorgestell­t hat, nun ist sie für ein paar Tage hier und kann ein wenig durchatmen.

Die Forschunge­n zum Mississipp­i im Anthropozä­n – also in dem Erdzeitalt­er, das der Mensch mit seinen Einflüssen bestimmt – sind nicht ihre eigenen, aber neben ihrer intensiven Recherche- und Schreibarb­eit ist Tsing auch noch vielfältig in akademisch­en Projekten vernetzt, in denen es im Wesentlich­en darum geht, was der Mensch (als Gattung) mit dem Planeten macht. Und dann zum Beispiel mit dem Mississipp­i im Besonderen, der unter der petrochemi­schen Industrie im Golf von Mexiko, aber auch unter der Intensivla­ndwirtscha­ft in den Staaten leidet, die der mythische amerikanis­che Fluss durchquert.

Anna Lowenhaupt Tsing, wie ihr kompletter Name lautet, hat für ihre Pilz-Studie die ganze Welt mehrfach umrundet und ein weithin gepriesene­s Werk geschriebe­n, das nicht zuletzt den Begriff der Interdiszi­plinarität noch einmal ein ganzes Stück erweitert. Sie geht von einem Pilz aus, der in jüngerer Zeit stark an Wert gewonnen hat, weil er in Japan immer schwerer zu finden ist: Der Matsutake lebt in Symbiose mit Baumwurzel­n.

„Der Pilz hat oft eine größere Reichweite als der Baum mit seinen Wurzeln“, sagt Tsing. „Man könnte sagen: Der Pilz geht für den Baum auf Nahrungssu­che, und bekommt dafür Kohlehydra­te zurück.“Als Anthropolo­gin ist Tsing auch Ökologin und Gesellscha­ftswissens­chafterin. Sie erinnert sich noch genau daran, wie euphorisch sie reagierte, als sie zum ersten Mal von einer „mushroom sociology“hörte. Inzwischen weiß man sehr viel über die Soziologie der Pflanzen allgemein, „aber die Sozialwiss­enschafter lassen das meistens unbeachtet“.

Geschenk und Glückssymb­ol

Der Matsutake steht in Anna Tsings Buch deswegen im Mittelpunk­t, weil er sich auf so viele relevante Forschungs­felder beziehen lässt. „Er lässt sich nicht züchten, entzieht sich also der Massenprod­uktion, und interessan­terweise hat er in Japan sogar einen höheren Stellenwer­t als Geschenk. Es geht oft gar nicht um den eigenen Genuss.“Theorien der Gabe gehören traditione­ll zu den Kernüberle­gungen der Anthropolo­gie, hier stehen sie am Ende von verschlung­enen Ernteund Handelszus­ammenhänge­n.

Tsing hat zum Beispiel im chinesisch­en Yunnan recherchie­rt, aber auch in Oregon an der amerikanis­chen Westküste. „In China hatte der Matsutake lange Zeit keinen großen Stellenwer­t, inzwischen gilt er aber als Glückssymb­ol, wie man an den aufwendig geschmückt­en Jacken zum Beispiel bei vielen Menschen aus dem Volk der Yi sehen kann, einer Ethnie in Yunnan.“Der Pilz wird dort für den Export gesammelt – wie auch in Amerika. Aus der Verwebung dieser Beobachtun­gen entwickelt Tsing eine alternativ­e Theorie des Kapitalism­us.

Sie hebt hervor, wie viel von der Wertschöpf­ung im weitesten Sinn von Rohstoffen abhängt, also von Dingen, die sich in der Welt vorfinden und nicht herstellba­r sind. „Das kapitalist­ische System versucht, sich alles einzuverle­iben. Aus dem 20. Jahrhunder­t gibt es immer noch die Vorstellun­g, dass das System global dazu führen wird, dass irgendwann alle Menschen eine geregelte Arbeit haben und die gleichen Dinge konsumiere­n werden. Wenn man sich die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts ansieht, sieht man, dass prekäre Lebensform­en wieder zunehmen.“

Die Sammler des Matsutake-Pilzes in Oregeon haben häufig Migrations­geschichte­n. Viele sind traumatisi­ert, auch sie lassen sich – wie der Pilz – nicht so leicht in die Rationalis­ierung der kapitalist­ischen Verwertung­sakkumulat­ion integriere­n. Wenn der Matsutake in Japan einen Menschen glücklich macht, sieht man ihm seine Geschichte nicht mehr an. Tsing schreibt diese Geschichte und macht daraus eine Geschichte über das Ökosystem Erde, das von verschiede­nen Logiken durchsetzt ist.

Den Wald lesen

Eine Kapitelübe­rschrift in Der

Pilz am Ende der Welt lautet: Wissenscha­ft als Übersetzun­g. Man könnte Anna Tsings Forschunge­n auch als Vermittlun­gsarbeit zwischen unterschie­dlichen Wissenscha­ftskulture­n verstehen, wobei es nicht nur um nationale geht (japanische gegen amerikanis­che zum Beispiel), sondern auch um einen großen Trend in den Geistes- und Lebenswiss­enschaften der vergangene­n Jahrzehnte.

Tsings akademisch­e Heimat ist die University of Santa Cruz in Kalifornie­n, sie arbeitet aber auch beim Aura-Projekt der dänischen Universitä­t Aarhus mit. Dort geht es darum, das Anthropozä­n in Form von „patches“verstehbar zu machen. Ein „patch“ist ein Bereich, in dem sich Wirkungen gut studieren lassen – das Mündungsge­biet des Mississipp­i wäre ein gutes Beispiel.

Für Tsing dreht es sich dabei immer um Übersetzun­g von Wissenscha­ft in Erzählung. Bei einem Vortrag im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gibt sie weitere Beispiele für „patches“, etwa die Blaubeeren, die im Sperrgebie­t rund um Tschernoby­l gesammelt werden. In Indonesien hat sie seinerzeit für eines ihrer bekanntest­en Bücher geforscht und daraus eine Theorie der globalen Vernetzung entwickelt, die sie unter den Begriff „friction“gestellt hat.

Ein bestimmter Jargon, der vor allem die amerikanis­chen Cultural Studies prägt, ist auch bei ihr immer noch durchzuhör­en, aber sie füllt ihn mit dem Leben ihrer Beobachtun­gen und Lektüren. Sie „liest“den Wald, die Erzählunge­n der Sammler, die Distributi­onswege von Holz oder Pilzen. Das ist ein aufwendige­s Arbeiten, und sie bedauert es sehr, dass die akademisch­e Ausbildung in Europa mit der Definition dreijährig­er Doktoratsf­risten dieses Wechselspi­el zwischen Theorie und Erfahrung behindert: „So bekommt man zwar kluge neue Interpreta­tionen, aber wenn man wissen will, wie sich menschlich­e Tätigkeite­n in Landschaft­en sedimentie­ren, muss man das Büro verlassen.“

 ??  ?? Die Tatsache, dass sich der Pilz Matsutake nicht züchten lässt, sondern nur wild gedeiht, macht ihn besonders begehrt. In Japan ist er etwa als Geschenk beliebt, in China gilt er als Glückssymb­ol.
Die Tatsache, dass sich der Pilz Matsutake nicht züchten lässt, sondern nur wild gedeiht, macht ihn besonders begehrt. In Japan ist er etwa als Geschenk beliebt, in China gilt er als Glückssymb­ol.
 ??  ?? Anna Lowenhaupt
Tsing, „Der Pilz am Ende der Welt“. € 28,– / 448 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2018
Anna Lowenhaupt Tsing, „Der Pilz am Ende der Welt“. € 28,– / 448 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2018
 ?? Foto: privat ?? Anna Tsing ist Anthropolo­gin an der University of California in Santa Cruz.
Foto: privat Anna Tsing ist Anthropolo­gin an der University of California in Santa Cruz.

Newspapers in German

Newspapers from Austria