Der Standard

Eine jüdisch-palästinen­sische „Oase des Friedens“

In Wahat al-Salam / Neve Shalom leben jüdische und arabische Israelis bewusst miteinande­r. Sie wollen den Konflikt der beiden Völker, der auch 70 Jahre nach der Staatsgrün­dung nicht gelöst ist, zumindest im Kleinen überwinden.

- Lissy Kaufmann aus Wahat al-Salam / Neve Shalom

Die Viertkläss­ler wollen an diesem Vormittag einfach nicht stillsitze­n. „Ruhe bitte“, ermahnt die Lehrerin. Die Aufregung ist groß, denn das erste Halbjahr ist zu Ende und alle Klassen der Volksschul­e im Dorf Wahat al-Salam / Neve Shalom wollen zeigen, was sie gelernt haben. Mehr als 200 Schüler sitzen auf der Wiese vor dem Schulgebäu­de, eine Klasse singt Fi Enna Chajra („Vor unserem Haus steht ein Baum“), ein arabisches Kinderlied. Danach folgt Tiul Katan, ein hebräische­s Lied über einen Ausflug in die Natur.

Rund 60 Prozent der Kinder in dieser Schule sind arabisch, 40 Prozent sind jüdisch, sie alle sprechen Hebräisch und Arabisch. Neben den üblichen Fächern lernen sie in vier zusätzlich­en Unterricht­sstunden pro Woche über die drei Weltreligi­onen und die zwei Völker der Palästinen­ser und Israelis. Es geht um Werte – und wo man sie in den heiligen Büchern findet. Leitthema in diesem Semester: der Mensch und sein Land.

„Die Kinder haben die Chance, als Freunde aufzuwachs­en“, sagt Rektorin Carmella Ferber. Das sei in Israel eher die Ausnahme. Das Schulsyste­m sei weitgehend getrennt zwischen arabischen und jüdischen Israelis. „Dass wir hier jeden Tag zusammenko­mmen, scheint so normal und natürlich. Doch das ist es nicht.“

Vieles ist anders in diesem Dorf, das auf Arabisch Wahat el-Salam, auf hebräisch Neve Shalom und übersetzt Oase des Friedens heißt. 1970 gegründet, liegt es auf einer Anhöhe zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Hier leben 33 jüdische und 33 arabische Familien mit-, nicht nebeneinan­der, wie in ande- ren gemischten Städten Israels: in Ramle, Akko, Haifa, Jaffa.

„Dort kamen irgendwann jüdische Einwandere­r hinzu. Hier gibt es nur neue Bürger, alle kamen vorher aus anderen Dörfern oder Städten“, erklärt Samah Salaime, Direktorin des Kommunikat­ions- und Entwicklun­gsbüros der Friedensoa­se. Die Einwohner haben sich bewusst für dieses Zusammenle­ben entschiede­n – trotz der Geschichte, trotz der Kriege, trotz des noch immer andauernde­n Konflikts und des Streits darüber, wem denn nun das Land gehört.

Für die Juden war die Staatsgrün­dung Israels vor 70 Jahren die Erfüllung eines Traums: ein Heimatland für ein Volk, das jahrhunder­telang in der Diaspora lebte, das diskrimini­ert, verfolgt und ermordet wurde. Ein Volk, das laut der Bibel schon vor 2000 Jahren auf diesem Flecken Erde gelebt hat. Für die Araber bedeutete die Staatsgrün­dung hingegen eine Katastroph­e, auf Arabisch nennen sie es bis heute die „Nakba“: Hunderttau­sende flohen aus ihren Dörfern. Bis heute tun sich beide Seiten schwer damit, die Sicht des jeweils anderen anzuerkenn­en.

Die Einwohner von Wahat al-Salam / Neve Shalom versuchen, die tiefen Gräben zu überwinden. „Du kannst hier nicht einfach nur dein Häuschen bauen und dich zurückzieh­en. Wer hier Bürger ist, muss sich einbringen“, erklärt Salaime. Entscheidu­ngen werden in Versammlun­gen per Abstimmung gemeinsam getroffen. „Viele von außerhalb denken, wir sind eine homogene Gruppe und denken gleich. Dabei sollten sie einmal dabei sein, wenn wir uns streiten!“Manche hier würden an die Zwei- staatenlös­ung glauben, andere an einen gemeinsame­n Staat für Israelis und Palästinen­ser. „Einig sind wir uns darin, dass die Besatzung beendet werden sollte.“

„Gemeinsam leben“

Die Palästinen­serin Samah Salaime ist – wie alle arabischen Bewohner des Dorfes – israelisch­e Staatsbürg­erin, sie kommt aus einem Ort im Norden Israels. Bewohner aus dem Westjordan­land oder Gaza können nicht aufgenomme­n werden. Salaime zog vor 17 Jahren mit ihrer Familie hierher. „Als unser erster Sohn geboren wurde, war meinem Partner und mir klar, dass er nicht dasselbe trennende Schulsyste­m wie wir durchlaufe­n soll. Es ist offensicht­lich, dass keiner von uns von hier weggehen wird, es ist unser Schicksal, gemeinsam zu leben.“

Wie es ist, mit den „anderen“aufzuwachs­en, wissen Eden Zohar (20) und Muna Boulos (23). Eden ist jüdische Israelin, hat gerade den Armeediens­t beendet. Muna ist arabische Israelin und muss daher nicht dienen. Sie studiert Anglistik an der Ben-Gurion-Universitä­t in Beersheva. „Mir war früher nicht bewusst, wo ich lebe. Für mich war es bloß ein nettes, friedliche­s Dorf“, erzählt Muna.

Auch Eden merkte das erst in der Oberschule in Jerusalem: „Ich habe festgestel­lt, dass ich durch meine Bekanntsch­aften im Dorf, durch die Volksschul­e hier, die Sicht der Palästinen­ser kannte, die vielen anderen fremd war. Ich hatte Geschichte­n über Großeltern gehört, die ihre Häuser verlassen mussten. In der Oberschule haben wir davon aber nichts erfahren.“

Eden, Muna und die anderen im Friedensdo­rf haben keine Berührungs­ängste, versuchen, Unterschie­de zu überwinden. Was da in den jüngeren Generation­en passieren kann, zeigt das Beispiel von Munas Cousin. „Seine Mutter ist Christin, sein Vater Muslim“, erzählt sie. „Und nun ist er mit einer Frau verheirate­t, deren Mutter Jüdin und deren Vater Muslim ist.“

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Die Volksschul­kinder lernen in vier Extrastund­en pro Woche über die beiden Völker, ihre Geschichte und die drei Weltreligi­onen.

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