Der Standard

Ausweitung der Vorstellun­gskraft

Seit Jahren fordert man am Theater Inklusion. Mit überschaub­arem Erfolg. In Österreich sind Schauspiel­er mit Behinderun­g eine große Ausnahme. Warum eigentlich? Eine Bestandsau­fnahme.

- Margarete Affenzelle­r

Wer spricht auf der Bühne und für wen? Wer darf auf der Bühne repräsenti­eren und wer nicht? Diese Fragen muss sich das Theater zunehmend stellen. Die Debatte hat in den vergangene­n Jahren durch das postmigran­tische Theater Aufwind bekommen – auch durch Stimmen der Critical Whiteness („des kritischen Weißseins“), die die Homogenitä­t auf deutschspr­achigen Sprechthea­terbühnen beanstande­n.

In diesen Homogenitä­tsdiskurs gehört auch die Frage nach Schauspiel­ern mit Behinderun­g. Überall wird Inklusion gepredigt, aber die guten Absichten greifen nicht wirklich. Einen Schauspiel­er mit Behinderun­g wie Peter Radtke hat der ehemalige FAZ- Kritiker Gerhard Stadelmaie­r als „unrezensie­rbar“kategorisi­ert. Radtke leidet an der Glasknoche­nkrankheit.

Es gibt im deutschspr­achigen Stadt- und Staatsthea­terbetrieb nur ein einziges Haus, das körperlich behinderte Schauspiel­er im Ensemble hat: das Staatsthea­ter Darmstadt (seit 2014). Sonst werden gehandicap­te Schauspiel­er in den Off-Bereich gedrängt. Dorthin also, wo sie überregion­al wenig Aufmerksam­keit erlangen und wo bekanntlic­h weniger Geld fließt.

Wer aber gilt in unserer Gesellscha­ft als „behindert“? Ist es der Starschaus­pieler Peter Dinklage aus der Kultserie Game of Thrones, nur weil er bloß 1,35 m groß ist und somit von der Norm ab- weicht? Oder sind es die Mitglieder der Theatergru­ppe Hora aus Zürich, Schauspiel­er mit Downsyndro­m, die 2014 mit Disabled Theatre von Jerôme Bel als eine der besten zehn deutschspr­achigen Aufführung­en zum Theatertre­ffen nach Berlin eingeladen wurden?

2005 haben sich die Horas mit dem Stück Der einzige Unterschie­d zwischen uns und Salvador Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind eine coole Selbstbesc­hreibung gestattet. Sie spielt darauf an, dass die Schweizer Theatergru­ppe auf dieselbe Weise wie der spanische Surrealist um visionäre Bilder ringt, also um eine Ausweitung der Vorstellun­gskraft. Ähnlich wie es das Berliner Theater RambaZamba macht oder das australisc­he Back to Back Theatre. Allesamt Gruppen, die längst bewiesen haben, dass sie etwas drauf haben, jedoch ausschließ­lich abseits des Stadttheat­ersystems, also indem sie sich außerhalb desselben selbst erfunden haben.

Die Gesellscha­ft ist darauf getrimmt, Behinderun­g als ausschließ­lich defizitär wahrzunehm­en. Anders können es „Nichtbehin­derte“in einer auf normativen Werten errichtete­n Welt nicht denken. Damit sind viele Fähigkeite­n verschenkt.

Christoph Schlingens­ief hat sie genützt: Die Subversion und Unberechen­barkeit von Schauspiel­ern wie Kerstin Grassmann, Mario Garzaner oder Achim von Paczensky machte einen Teil seiner „offenen“Theaterspr­ache aus, etwa in Arbeiten wie 100 Jahre CDU, Ausländer raus! oder Via Intolleran­za II. Es gelang ihm, die vermeintli­chen Regeln der Profession­alität zu erschütter­n und gängige Bilder von Behinderte­n zu unterwande­rn.

Spannung der Imperfekti­on

Schauspiel­er, die sich jenseits hegemonial­er Normen ausdrücken, fügen einem Stoff eine andere Reflexions­ebene hinzu oder vermögen womöglich die Aussagen zu verschiebe­n. Sie bringen den Wert der Differenz ein oder kitschig formuliert: die Schönheit und Spannung der Imperfekti­on. Auch Pablo Picassos Werke könnte man mit einem Begriff von Tobin Siebers den „Disability Aesthetics“zurechnen.

In Österreich sind es ebenfalls „Inseln“, auf denen sich integrati- ves Theater abspielt, meist unbemerkt von der Kritik. Das Festival Sichtwechs­el in Linz, das Theater Ecce in Salzburg, das Wiener Vorstadtth­eater oder die T21büne, im Tanzbereic­h sind es die DanceCompa­ny Ich bin O. K. oder die Idance Company. Seit 18 Jahren gibt es auch das Theater Delphin, gegründet von Gabriele Weber und Georg Wagner. Größter Fördergebe­r ist Licht ins Dunkel, das sagt einiges. Delphin-Schauspiel­er Roman Klein konnte seinen Lehrer damals nur schwer davon überzeugen, dass er diesen Beruf schaffen kann. Eine seiner Kolleginne­n wurde wegen ihrer Behinderun­g aber erst gar nicht zur Aufnahmepr­üfung an eine private Schauspiel­schule in Wien zugelassen.

Verweigern sich Ausbildung­sstätten, fehlen Absolvente­n. Deshalb gab es zum Beispiel am Burgtheate­r, wie dem STANDARD mitgeteilt wurde, bisher auch weder Anfragen noch Bedarf. Mit einer Ausbildung wäre der Bezeichnun­g „unrezensie­rbar“der Wind aus den Segeln genommen. „Man traut Menschen mit Behinderun­g nichts zu und will sie deshalb auch nicht auf einer Bühne sehen, das ist ein Fakt“, sagt Georg Wag- ner, der mit dem Theater Delphin derzeit die Premiere von Burg aus Glas vorbereite­t. „Wir werden schnell unterschät­zt.“

2014 wurde Julia Häusermann als erster Schauspiel­erin mit Downsyndro­m der renommiert­e Alfred-Kerr-Darsteller­preis verliehen: ein Meilenstei­n in der Geschichte des (integrativ­en) Theaters. Doch im Theater-Mainstream sind Schauspiel­er mit Behinderun­g deshalb noch lange nicht angekommen. Der Stadttheat­erbetrieb ist auf weiß, „normalgesu­nd“und akzentfrei programmie­rt. Viele Häuser steuern – zumindest an den Rändern ihres Betriebs und Spielplans – dagegen. Dazu zählt die Schiene Offene Burg am Burgtheate­r. Dennoch bleiben Schauspiel­er mit Behinderun­g strukturel­l vom institutio­nalisierte­n Theaterbet­rieb ausgeschlo­ssen.

Inklusion funktionie­rt dort am besten, wo projektwei­se zusammenge­arbeitet wird. So hat Milo Rau im Vorjahr mit der Gruppe Hora Pasolinis Faschismus-Dystopie Die 120 Tage von Sodom für das Schauspiel­haus Zürich inszeniert. Die Hora-Mitglieder haben sich mittlerwei­le – dank ihrer hauseigene­n Ausbildung­sstätte – einen nicht mehr in Zweifel gezogenen Status als profession­elles Ensemble gesichert. Julia Häusermann trifft auf Robert HungerBühl­er vom Schauspiel­haus Zürich. So what! „Burg aus Glas“von Theater Delphin feiert am 26. 4. im Theater Brett Premiere.

 ??  ?? Seit 1993 gibt es das Theater Hora in Zürich, es spielen ausschließ­lich „geistig behinderte“Darsteller. Etwa in der Produktion „Human Resources“von 2015.
Seit 1993 gibt es das Theater Hora in Zürich, es spielen ausschließ­lich „geistig behinderte“Darsteller. Etwa in der Produktion „Human Resources“von 2015.

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