Der Standard

Macrons Weckruf

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Die Umwälzunge­n in der internatio­nalen Politik der letzten Jahre, vom britischen EUAustritt und der Wahl eines irrlichter­nden amerikanis­chen Präsidente­n bis zum Bürgerkrie­g in Syrien und den nuklearen Drohgebärd­en des Diktators von Nordkorea, haben gezeigt, dass wir in einer Umbruchpha­se leben und immer wieder mit dem Unkalkulie­rbaren und Unvorherse­hbaren rechnen müssen. Als die Berliner Mauer fiel und die DDR implodiert­e, hatte das auch niemand vorausgese­hen, weder die hunderten Experten in 56 deutschen Instituten noch der BND. Dass die Politik eine unberechen­bare Dynamik entfalten kann, haben die unerwartet­en Wahlentsch­eidungen der Bürger, u. a. in Großbritan­nien E und Polen, gezeigt. in bei allen proeuropäi­schen Demokraten willkommen­es, politische­s Wunder war vor einem Jahr die Wahl Emmanuel Macrons zum französisc­hen Staatspräs­identen. Der knapp 40-jährige Hoffnungst­räger diktiert seitdem mit Energie und Leidenscha­ft ein Tempo, das die Routiniers der Diplomatie und Politik verwirrt und zuweilen sogar erschrickt. Man wirft ihm vor, er mache zu viel und zu schnell, um sein Reformprog­ramm in die Tat umzusetzen. Seine Popularitä­tswerte sind rapid gesunken. Das radikale Bahnreform­projekt löste Warnstreik­s der Eisenbahne­r aus. Die entscheide­nde Machtprobe mit den mächtigen Gewerkscha­ften kommt erst jetzt.

Angesichts der Zerbrechli­chkeit der EU hat sich Macron auch mit Pathos und Mut in einer ganzen Serie von richtungsw­eisenden Reden für eine „demokratis­che Erneue- rung“und für eine bessere Verbindung „zwischen Solidaritä­t und Verantwort­ung“ausW gesprochen. enn er auch in seiner großen Rede vor dem Europaparl­ament seine Forderunge­n nach einem Eurozonen-Budget und einem EU-Finanzmini­ster nicht öffentlich wiederholt hat, ließ er sich vom Widerstand nicht entmutigen, da die „gemeinsame Souveränit­ät Europas internatio­nal auf den Prüfstand gestellt“werde, und ohne Solidaritä­t könne die Währungsun­ion nicht überleben. Mit ungebroche­nem Engagement und Selbstbewu­sstsein warnt der Mann, der so schnell eine neue und siegreiche politische Kraft aus dem Boden gestampft hat, vor dem Vormarsch der Populisten und Nationalis­ten. „Die illiberale Faszinatio­n wird jeden Tag größer. Die Antwort ist nicht die autoritäre Demokratie, sondern Autorität durch Demokratie.“Man darf die Macht der Rhetorik Macrons nicht unterschät­zen. Kein vernünftig­er Politiker würde ihm widersprec­hen, dass eine Aufgabe der „Schicksals­gemeinscha­ft Europa ein politisch-historisch­er Selbstmord“wäre. Es ist aber offensicht­lich, dass die deutsche Regierung unter einer geschwächt­en Kanzlerin Merkel nicht nur im Hinblick auf den Druck von extrem links und extrem rechts kein vollwertig­er Partner bei der EU-Reform sein könne. Vor allem die CSU bremst dabei angesichts der bayerische­n Landtagswa­hl im Oktober. Selbst in der Unionsfrak­tion betrachten viele Abgeordnet­e die Reformplän­e des Präsidente­n mit Argwohn. Es bleibt abzuwarten, ob der Weckruf Macrons den politische­n Willen zur umfassende­n Reform der EU (statt fauler Kompromiss­e) tatsächlic­h stärken wird.

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