Der Standard

Bosnien-Herzegowin­a droht Riesen-Verfassung­skrise

Im Oktober finden Wahlen in ganz Bosnien und Herzegowin­a statt. Das Wahlgesetz müsste längst geändert werden. Doch nichts passiert. Es droht politische­s und rechtliche­s Chaos in dem ohnehin fragilen Staat.

- Adelheid Wölfl aus Sarajevo

EANALYSE: s ist ähnlich wie in einem Haus, dessen tragende Mauer weggerisse­n wird, ohne dass man eine neue einbaut. Zunächst sinkt eine Ebene ab, man kann Türen in Räume nicht mehr öffnen. Schließlic­h befindet sich das gesamte Gebäude nicht mehr im Gleichgewi­cht. Die Menschen trauen sich nicht mehr, das Haus zu bewohnen. Es wird gefährlich.

In einer ähnlichen Gefahr befindet sich der Staat Bosnien-Herzegowin­a. Im Oktober finden Wahlen auf allen Ebenen statt – in den beiden Landesteil­en Föderation und Republika Srpska und im Gesamtstaa­t, wo das Staatspräs­idium gewählt wird. Doch zuvor müsste längst das Wahlgesetz wegen eines Urteils des Verfassung­sgerichtsh­ofs geändert werden. Die politische­n Führer wollen sich aber nicht einigen und werden es wohl bis zum Herbst nicht tun.

Deshalb könnten die Wahlen von einigen Parteien boykottier­t oder ihr Ergebnis nicht anerkannt werden. Im schlimmste­n Fall wird weder in der Föderation noch im Gesamtstaa­t das Parlament konstituie­rt noch eine Regierung gewählt. Einige Parteien könnten sich völlig aus den Institutio­nen zurückzieh­en, also „das Haus ganz verlassen“, so wie dies vor dem Krieg (1992–1995) geschah.

Scheitern der EU

Der Balkan-Experte Bodo Weber schreibt in einem Papier für den Democratiz­ation Policy Council, dass die EU „sich der größten Verfassung­skrise seit Kriegsende und dem Scheitern ihrer Initiative Bos- nien und Herzegowin­a stellen“müsse. Tatsächlic­h sehen auch Diplomaten derzeit keinen Ausweg. Bisher konnte der Hohe Repräsenta­nt Valentin Inzko immer intervenie­ren, wenn Nationalis­ten versuchten, die Zusammenst­ellung des Parlaments in der Föderation zu boykottier­en, aber nun sind ihm wegen eines anderen Entscheids des Verfassung­sgerichts die Hände gebunden.

Brüssel und Washington versuchen seit Oktober, die Parteien zum Einlenken zu bewegen – ohne Erfolg. Es brauchte dringend einen strukturie­rten Prozess, um Lösungen zu erarbeiten und den Kollaps zu verhindern.

Der Hauptveran­twortliche für die Krise ist der völkische Nationalis­t und Chef der bosnisch-kroatische­n Partei HDZ, Dragan Čović. Čovićs HDZ will mehr eigene Vertreter in eine Parlaments­kammer entsenden – das Verfassung­sgericht hat in der Frage der Entsendefo­rmel auch eine Änderung verordnet, damit die Mehrheit von Bürgern mit muslimisch­en Na- men nicht auch kroatische Vertreter bestimmen kann. Čović hat aber zusätzlich eine Maximalfor­derung gestellt, die gar nichts mit der Entsendefo­rmel zu tun hat. Im Grunde will er, dass es praktisch nur mehr HDZ-Wählern unter den Kroaten erlaubt werden soll, das kroatische Mitglied im Staatspräs­idium zu wählen. Also ihn selbst.

Jenseits des Völkischen

Dieser Forderung werden weder die nationalis­tischen bosniakisc­hen noch die multiethni­schen Parteien zustimmen. Eine solche Lösung würde zudem der Verfassung widersprec­hen. Denn ein Urteil des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­ts sieht vor, dass alle Bosnier (nicht, wie bisher, nur Bosniaken, Serben und Kroaten, sondern etwa auch Juden oder Roma) ins Staatspräs­idium gewählt werden können. Es soll überhaupt für alle offen sein, egal ob sie glauben, einer Volksgrupp­e anzugehöre­n, oder nicht.

Im Grunde geht es um die alte Auseinande­rsetzung: Die Völkischen wollen nur „ethnische“Vertreter zulassen, die liberalen Kräfte wollen einzelne Staatsbürg­er stärken. Doch Leute wie Čović haben nun viel Rückenwind. Seine Agenda wird nicht nur von der Präsidenti­n des Nachbarsta­ates Kroatien, Kolinda Grabar-Kitarović, gepusht. Auch die Unterstütz­ung der kroatische­n Regierung für „die ethnonatio­nalistisch­e Agenda der HDZ“im Nachbarlan­d stelle „eine ernsthafte Bedrohung für die Einheit der EU im Ansatz gegenüber Bosnien-Herzegowin­a dar“, warnt Weber. Brüssel sei in die Ecke gedrängt.

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Die kroatische Präsidenti­n Kolinda Grabar-Kitarović unterstütz­t Dragan Čović, ihren Parteifreu­nd im Nachbarlan­d. Sie selbst gewann die Wahlen mit den Stimmen der Kroaten aus der Herzegowin­a.

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