Der Standard

Der Wolf im Dschungel

Für ihren düsteren Thriller „A Beautiful Day“greift die schottisch­e Regisseuri­n Lynne Ramsay auf eine der populärste­n Figuren des Kinos zurück: den einsamen Rächer. Joaquin Phoenix setzt das blutige Handwerk seiner Vorgänger fort.

- Michael Pekler Jetzt im Kino

Wien – Was Joe antreibt, weiß man nicht. Dafür sieht man umso häufiger, wie ihn etwas antreibt. Mitunter sieht man auch Erinnerung­sfetzen aus seiner Vergangenh­eit. Aus der Kindheit, aus einer Zeit, die er möglicherw­eise bei der Polizei zugebracht hat, und im Irakkrieg war Joe offensicht­lich auch. Vom Vater wurde er geprügelt. Für ein Psychogram­m dieses massigen Mannes taugen diese Bilder allerdings nicht. Denn Joe ist, auch wenn A Beautiful Day alles unternimmt, um ihn nicht als solchen zu zeichnen, ein typischer Kinoheld.

In der Gegenwart ist Joe unterwegs, um entführte oder manchmal auch nur untergetau­chte Menschen aufzuspüre­n. Außerdem jagt er Kinderschä­nder. Sein aktueller Fall ist der eines verschwund­enen Mädchens: Die Tochter eines Senators wurde verschlepp­t, Joe soll sie zurückhole­n. Wie bleibt ihm überlassen. Man weiß, dass er alles versuchen wird, aber wie er es versuchen wird, das will man sehen.

Straßen des Abschaums

Die schottisch­e Filmemache­rin Lynne Ramsay, die sich mit Arbeiten wie dem Coming-of-Age-Drama Ratcatcher und We

Need to Talk About Kevin mit Tilda Swinton einen Namen gemacht hat, ist ohne Zweifel eine exzellente Kennerin des USamerikan­ischen Genrekinos. Wer sich A

Beautiful Day ansieht, wird es eher nicht sein. Aber man wird mit Joe auf den ersten Blick eine Figur weniger neu entdecken als wiedersehe­n. Denn Ramsay greift auf eine der populärste­n Figuren zurück, die die US-Literatur und das Kino für das Genre entwickelt haben: jene des einsamen Rächers, zu dem man über die Jahrzehnte und über unzählige Filme hinweg eine Hassliebe entwickeln konnte.

So ist es auch kein Zufall, dass Ramsays Gewaltthri­ller seit seiner Premiere vergangene­s Jahr beim Festival von Cannes mit Martin Scorseses Klassiker Taxi Driver mit Robert De Niro verglichen wird. Das ist jener furiose Film über den vereinsamt­en Wolf Travis Bickle, der die Straßen New Yorks vom „Abschaum“zu säubern gedenkt und einen kanonische­n Monolog vor dem Spiegel hält.

Das würde Joe niemals tun. Denn Joe denkt niemals an die anderen, im Grunde sind ihm Stadt und Menschen gleichgült­ig. Er ist ein Mann, der nur an sich denkt und gelegentli­ch an seine Mutter (Judith Roberts), die da draußen am Stadtrand wohnt. Jede Form der Selbstinsz­enierung ist ihm ein noch größeres Gräuel als die Gesichter derjenigen, die er jagt.

Die Geschichte vom Verbrecher, dessen Verbrechen weniger verbrecher­isch sind als die der anderen, ist so alt wie das Kino selbst. Verbrecher wie Joe decken nämlich hundertmal schlimmere Verbrechen auf – und ahnden sie. Und selbstvers­tändlich sind es fast ausschließ­lich Männer, die zum Rächer im Kino werden. Auch Joe, gespielt vom 43-jährigen Joaquin Phoenix, der hier um mindestens 15 Jahre älter und also interessan­ter aussieht, wird zu einem solchen. In A Beautiful Day trägt Phoenix einen besonders männlichen langen, grauen Bart.

Gewaltvoll­es Überlebens­werk

A Beautiful Day heißt im Original You

Were Never Really Here und basiert auf dem gleichnami­gen Roman von Jonathan Ames. Tatsächlic­h hat man jedoch den Eindruck, dass dieser Mann eigentlich immer schon da war: angelegt in den frühen Hard-BoiledKrim­is der 40er- und 50er-Jahre, die den hartgesott­enen Ermittler im Dschungel der Großstadt die Kontrolle über sich verlieren ließen; in den Romanen von James Ellroy und im Neo-Noir der 80er-Jahre; im konkreten Fall aber besonders in den Erzählunge­n des New Yorkers Andrew Vachss, der in seinen Romanen gegen die „Freaks“und „Kinderschä­nder“zu Felde zieht, dessen Protagonis­ten New York als einzige „große Schleimgru­be“sehen und der den Kampf gegen die Päderastie zu seinem Überlebens­werk erklärt.

Lynne Ramsay will all das erfahrbar machen, ganz körperlich beim Zuschauen. Sie verzichtet auf die explizite Darstellun­g von Gewalt, lässt sie aber dennoch stets unmittelba­r und heftig aus Joe herausbrec­hen. Wenn dieser Mann in einen Plastiksac­k atmet, dann wie zur Selbstberu­higung und um sich in Trace zu versetzen. Es ist ein präziser Rhythmus, der auch diesen Film bestimmt.

Nicht zuletzt deshalb ist A Beautiful Day in erster Linie durch die physische Präsenz Joaquin Phoenix’ geprägt, dessen Körper die Kamera (Thomas Townend) wie ein zerstörtes Kunstwerk abtastet. Seine ganze Vergangenh­eit hat sich in diesen Körper eingeschri­eben, vor allem in seine Narben. Doch dann sitzt dieser Mann mit seiner schäbigen Kleidung plötzlich wieder in einer Luxuslimou­sine, die ihn zum Tatort bringen wird. Nicht als Ermittler, sondern als profession­ellen Kinokiller.

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Mitten in New York am Rande der Gesellscha­ft: Joe (Joaquin Phoenix) belässt es als Berufskill­er nicht nur bei der Beobachtun­g von Kinderschä­ndern.

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