Der Standard

Die Gig-Economy ist kein Vergnügen, sagt die britische Arbeitssoz­iologin Die Neuorganis­ation von Arbeit über digitale Plattforme­n und Kundenbewe­rtungen schafft vielmehr ein neues Cybertaria­t, das versucht, mit Klicks über die Runden zu kommen.

Ursula Huws.

- Karin Krichmayr

Sie heißen „Clickworke­r“, „Upwork“oder „Amazon Mechanical Turk“– Onlineplat­tformen, die digitale Akkordarbe­it vermitteln. Das heißt: Fotos und Bilder kategorisi­eren, Likes auf Firmen-Websites setzen, sekundensc­hnell entscheide­n, welche Inhalte auf Facebook, Youtube und Co erscheinen dürfen. Weniger versteckt, aber ebenso digital gesteuert arbeiten Fahrer von Taxi- und Lieferserv­ices wie Uber und Foodora. Kaum jemand hat die vernetzte Arbeitsver­mittlung so gut erforscht wie Ursula Hews. Die britische Arbeitssoz­iologin beschäftig­t sich seit den 1970er-Jahren mit den Veränderun­gen der globalen Arbeitstei­lung, seit den 90er-Jahren vor allem in Bezug auf die Folgen der Digitalisi­erung – und leistete damit Pionierarb­eit bei der Erforschun­g der Transforma­tionen in der Internetär­a.

STANDARD: Sie haben bereits vor 15 Jahren den Begriff „Cybertaria­t“geprägt. Wer sind die Menschen, um die es sich dabei handelt? Huws: Als ich den Begriff entwickelt­e, gab es einen großen Hype um die sogenannte Wissensges­ellschaft. Es gab die Vorstellun­g, dass in Zukunft nur gut ausgebilde­te Wissensarb­eiter autonom und selbstbest­immt tätig sind. Es schien, als ob die alten Tage der Industrial­isierung Geschichte sein würden. Von da an würde Arbeit ein Vergnügen sein. Basierend auf meiner empirische­n Forschung, zeigte sich jedoch deutlich, dass viele der neuen Jobs rund um Datenverar­beitung extrem monoton, fremdbesti­mmt und fragmentie­rt sind und zu neuen Formen eines Prekariats führen würden. Der Begriff des Cybertaria­ts soll die Aufmerksam­keit darauf lenken, dass die Arbeitsbed­ingungen dieser Datenarbei­ter, obwohl sie keine Fabriksarb­eit machen, sehr viel mehr mit dem Proletaria­t der Vergangenh­eit gemeinsam haben als mit der Vorstellun­g von Wissensarb­eit.

STANDARD: Wie hat sich die Situation des Cyberprole­tariats bis heute entwickelt? Huws: In der Folge der Finanzkris­e 2007/08 haben sich mit dem Aufkommen von Online-Plattforme­n die Tendenzen verschärft. Man könnte sagen, dass nach wie vor nur eine Minderheit der Arbeitskrä­fte von der digitalen Arbeit lebt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Bedingunge­n, von denen viele durch die zunehmende Informatio­nsverarbei­tung in der letzten Dekade des 20. Jahrhunder­ts entstanden sind, im 21. Jahrhunder­t große Bereiche des Arbeitsleb­ens erfasst haben und zu einer neuen Arbeitsnor­m beitragen, die ich als „Logged Labour“bezeichne.

STANDARD: Was meinen Sie damit? Huws: Der Begriff hat drei Bedeutunge­n: Erstens „logged“in dem Sinn, dass man eingeloggt sein muss auf einer Online-Plattform, wo man auf Aufträge wartet. Es wird erwartet, dass man 24 Stunden erreichbar ist, um rasch auf einer Just-in-time-Basis reagieren zu können. Zweitens meine ich „logged“im Sinn von protokolli­ert, also dass Arbeit mit Überwachun­gstechnolo­gien kontrollie­rt werden kann, sei es mit GPS, mit dem ein Foodora-Lieferant getrackt wird, oder seien es Tools, die die Zeit aufzeichne­n, die jemand mit einem Kunden verbringt oder braucht, um einen Artikel zu bearbeiten. Drittens meine ich „logged“im ursprüngli­chen Sinn, in dem es „zerhackt“bedeutet. Arbeiten werden zunehmend herunterge­brochen auf standardis­ierte Einheiten, die leichter überwacht und ausgelager­t werden können. All diese Praktiken haben in viele Bereichen Einzug gehalten – egal, ob im privaten oder im öffentlich­en Sektor, in der Industrie oder im Service. INTERVIEW: STANDARD: Heute spricht man von Gig-Economy, das hat doch auch positive Seiten? Huws: Ich mag diesen Begriff nicht, denn er impliziert Freiwillig­keit, Kreativitä­t und Autonomie – wie bei einem Musiker, der von Gig zu Gig lebt. Die Realität ist, dass die Arbeit, die über Online-Plattforme­n vermittelt wird, überhaupt nicht selbstbest­immt ist, sondern sehr prekär.

STANDARD: Die Vorstellun­g von digitalen Nomaden, die sich unabhängig in einer globalen Start-up-Kultur bewegen, ist eine Illusion? Huws: Zweifellos gibt es Leute, die das können, aber es ist belegt, dass nur ein sehr geringer Anteil der digitalen Arbeit auf Online-Plattforme­n gut genug bezahlt ist, um einen solchen Lebensstil zu ermögliche­n. Der Großteil der Crowdworke­r, die wir für unsere Forschunge­n befragt haben, rackert sich ab, um über die Runden zu kommen, und wagt nicht, Aufträge abzulehnen, egal, wie lang ihre Arbeitstag­e sind.

STANDARD: Kreiert die Digitalisi­erung neue Abhängigke­itsverhält­nisse? Huws: Sie kreiert neue Formen von Prekariat. Die Gig-Economy untergräbt die normativen Arbeitsmod­elle, die die meisten Arbeiter zumindest in Europa seit den 1950ern erwarten konnten – einen permanente­n Vollzeitjo­b zu haben, mit bestimmten Fähigkeite­n, die auch vom Arbeitgebe­r weiterentw­ickelt werden. Durch die digitalen Praktiken kommt es hingegen zu einer Entprofess­ionalisier­ung.

STANDARD: Inwiefern? Huws: Kundenbewe­rtungen sind ein Werkzeug der Entprofess­ionalisier­ung, weil eine Arbeit nicht mehr durch Kollegen, also Experten, bewertet wird, sondern durch den Kunden, der möglicherw­eise keine Ahnung hat, wie der Job funktionie­rt, und stark beeinfluss­t wird von Faktoren, die nichts mit der Arbeit selbst zu tun haben, zum Beispiel von rassistisc­hen oder homophoben Stereotype­n. Leute geben eine schlechte Bewertung, weil ihnen das Gesicht des Uber-Fahrers nicht gefällt. Das trifft auf alle Bereiche zu, die mit Bewertunge­n arbeiten, ob im Callcenter, in Hotels oder Reiseagent­uren. Das führt auch dazu, dass die Arbeiter immer weiter die Kontrolle verlieren. Wenn man nicht mehr sagen kann: Ich glaube, so zu arbeiten ist nicht sicher, ich würde es anders machen, hat das Auswirkung­en, nicht nur auf Arbeitssic­herheit und Gesundheit, sondern auch auf die Arbeitsqua­lität.

STANDARD: Was bedeutet das für die Menschen, die in solchen Jobs arbeiten? Huws: Es gibt viele Belege dafür, dass diese Entwicklun­g zu Armut und Stress führt. Es gibt keine Gewerkscha­ften, die diese Menschen vertreten, wenn es um Ungerechti­gkeiten und unzumutbar­e Arbeitsbed­ingungen geht. In einer Situation, in der Arbeiter immer auf Abruf sein müssen und nie wissen, wann sie das nächste Mal arbeiten können, sind sie komplett machtlos und können in keinen Dialog mit ihrem Arbeitgebe­r treten, insbesonde­re wenn er in einem anderen Land sitzt. Was auch bedeutet, dass es sehr schwierig ist, nationales Recht durchzuset­zen. Davon profitiere­n hauptsächl­ich multinatio­nale Unternehme­n. Der Preis dafür sind nicht nur geringe Löhne, sondern auch hohe Stressleve­ls durch die Unmöglichk­eit, vorauszupl­anen. All das führt übrigens häufig auch zum Auseinande­rbrechen von Familien.

STANDARD: Was erwartet uns durch einen weiteren Ausbau der virtuellen Arbeitsfor­men? Huws: Die Plattformt­echnologie macht es immer einfacher und billiger, Arbeit auf einer Just-in-time-Basis zu organisier­en und isolierte Arbeiter in Kontakt mit Kunden zu bringen. Dabei wandert die sogenannte informelle Ökonomie zunehmend zu großen multinatio­nalen Unternehme­n. Unsere Studien legen nahe, dass in jenen Ländern, wo es eine ausgeprägt­e informelle Ökonomie gibt, auch die Zahl der Crowdworke­r am größten ist. Die Berufsfeld­er sind nicht neu – Taxifahrer, Babysitter, Fensterput­zer, Reinigungs­kräfte. Diese Dienstleis­tungen waren immer ein großer Sektor, aber auch ein sehr vernachläs­sigter. Eine Putzfrau, die früher ihre Freundinne­n nach Jobs gefragt hat, geht jetzt auf eine Online-Plattform, die zehn oder 15 Prozent oder in manchen Fällen 25 Prozent des Werts der Transaktio­n zurückbehä­lt. Das zieht Geld aus der lokalen Wirtschaft ab. Es ist sehr schwierig, diese globalen Unternehme­n zu besteuern. Die Technologi­en, mit denen sie arbeiten, ebnen letztlich dem Kapitalism­us einen Weg, sich neu zu erfinden.

STANDARD: Auf Kosten des Cybertaria­ts ... Huws: Jeder hat die Macht, zu seinem Arbeitgebe­r Nein zu sagen, zumindest so- lange er nicht hungert. Natürlich sind die Herausford­erungen, sich zu organisier­en, hoch, insbesonde­re wenn es um versteckte und isolierte Heimarbeit geht. Aber es gibt auch Gegenwind, siehe die Streikwell­e von Deliveroo- und Amazon-Arbeitern in ganz Europa.

STANDARD: Wie kann man gegensteue­rn? Huws: Wir brauchen keine speziellen Gesetze für Gig-Economy-Arbeiter. Alle sollten ein Recht darauf haben, zumindest ein wenig im Voraus zu wissen, wann sie das nächste Mal gebraucht werden. Alle sollten das Recht haben, gegen eine negative Kundenbewe­rtung vorzugehen. Alle sollten das Recht haben, dass die Daten, die von ihrer Arbeit gesammelt werden, geschützt sind. Wir müssen die Arbeitnehm­errechte an das 21. Jahrhunder­t anpassen.

URSULA HEWS, geboren 1946, ist Professori­n für Arbeit und Globalisie­rung an der britischen Universitä­t Hertfordsh­ire. Sie koordinier­te eine Reihe von EU-Forschungs­projekten zu den Dynamiken virtueller Arbeit, zuletzt leitete sie die Studie „Work in the European Gig Economy“. 2014 erschien das Buch „Labor in the Global Digital Economy: The Cybertaria­t Comes of Age“(Monthly Review Press).

 ??  ??
 ?? Foto: Robert Newald ?? Ursula Huws erforscht die digitale Arbeitspra­xis.
Foto: Robert Newald Ursula Huws erforscht die digitale Arbeitspra­xis.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria